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Akustikkollektiv Feministisch

Volksgefahr Kino

Nackte Menschen in der Schauburg, brutale Mörder im Thalia, außerirdische Monster im Ufa-Kristallpalast, Sex am Nachmittag im deutschen Fernsehen, Pornos und Computerspiele allgemein zugänglich im Internet. Oder das Bahnhofs-Zeitkino, ein sogenanntes Cinema Perverso, mit den „Nebenangeboten“ an Prostitution und Sex in den 1950er bis 1990er Jahren. Ein Alptraum für Zensoren, Pädagogen und Moralisten. Weniger im April 2021 (oder vielleicht doch wieder), sondern eher im April 1913.

Filmprojektor mit Handkurbel
Filmprojektor mit Handkurbel, Heimprojektor für 35 mm Stummfilm, CC BY-SA 3.0

Da versammelten sich die Sittenwächter des Königreiches Sachsen, die Oberen von Polizei, Stadtverwaltung und Kreisamtshauptmannschaft, die Garde der Kinobetreiber sowie Gäste aus der Reichshauptstadt. Nicht zu vergessen, die Moralinstitutionen der protestantischen und katholischen Kirchen. Ort des Geschehens: Meinholds Säle in der Altstädter Moritzstraße. Ziel: Gegen den Schund in den Kinos.

Geladen hatte die Zentrale für Jugendfürsorge. Hauptredner war Prof. Dr. Brunner aus Berlin, ein damals bekannter Vorkämpfer in der Bewegung gegen die Schmutzliteratur und Mitglied der Königlichen Polizeizentralstelle zur Prüfung des Films, als der obersten Zensurbehörde. Im bis auf den letzten Platz gefüllten Saal ging es hoch her: Moralisten versus Kinobesitzer.

Der Hintergrund

Hintergrund sind auch die Kämpfe der Theater gegen das Kino mit seiner Massenanziehung, besonders vor dem 1. Weltkrieg. Das Theater beanspruchte für sich ein Hort der Hochkultur und der klassischen Bildung zu sein. Kino wurde als dreckiger Ort für Minderbemittelte, Mindergebildete, für das Ausleben niedrigster und primitivster Instinkte angesehen.

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Blaue Fabrik

Als Gegenmittel nahm der Autorenfilm seinen Anfang, auch die zunehmende Diskrepanz zwischen Autor und Regisseur. Das Starkino wurden geboren. Ein erstes Beispiel dafür war die noch heute bekannte Dänin Asta Nielsen. Es entstand das „wortlose Drama, welches nur in Bildern spricht“, wie Willi Langner in der Lichtbild-Bühne Nr. 37 von 1911 schrieb.

Ab den 1950er Jahren „übernahm“ das Fernsehen die Rolle des Bösen. Und in der Gegenwart ist es das Internet, dem das Makel des Unmoralischen angeheftet wird.

Dresdner Nachrichten vom April 1913
Dresdner Nachrichten vom April 1913

Die Gefahren

„Zunächst sei es eine zutiefst bedauerliche Erscheinung, dass unsere gute deutsche Art durch einen Mischmasch aus der ganzen Welt verwirrt werde.“ So ein Zitat des Prof. Brunner in den Dresdner Nachrichten vom 6. April 1913. Und wie war der „deutsche Film“ 1913 gestrickt, der hier so kritisiert wurde?

„Das Rezept für einen deutschen Film setzt sich zusammen aus einer Prise französischen Esprits (Ehebruchszenen und dgl.), etwas englischem Humor, einer guten Dosis amerikanischer Brutalität und einer Kleinigkeit deutschen Gemüts. … Hiermit gebe der deutsche (Film-)Fabrikant sein nationales Bewusstsein preis. … Hier liege der Krebsschaden für das völkische Prinzip. Gefährdet sei vor allem das gesunde Empfinden der Jugend.“

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Kieferorthopädie

Und wie ein Pfarrer beim Sonntagshochamt wetterte Professor Brunner von der Kanzel: „Das Schlimmste ist, dass man sich im Kino durch häufigen Besuch allmählich an die Atmosphäre, in der die Bilder lebten, gewöhne. … Was man dort sehe, werde als bare Münze genommen.“

Die im Saal anwesenden Kinobetreiber tobten, pfiffen und schrien. Versammlungsleiter Pfarrer Metzold schaffte es erst nach langem Läuten seiner Glocke und mit lauter Stimme, die aufgeregten Leute zu beruhigen.

Professor Brunner tat nun auch seinen begütenden Teil dazu bei, indem er die Erfindung des Kinematographen als gut bezeichnete. Es sei „ein glänzendes Mittel für positive Aufklärungsarbeit“. Dafür erntete er sogar Beifall und Bravo-Rufe. Das Problem sei aber (und damit goss er wieder Öl ins Feuer) … „dass das Volk solche Filme ursprünglich sicher nicht wollte. Aber man habe die Massen erzogen, jetzt verlangt man derartigen Schund.“ Wieder antwortete ein Pfeifkonzert. Und es gab Zwischenrufe, „dass derartige Filme in Dresden nie gezeigt würden“.

Keine Lösungen

Ingenieur Snay forderte in der großen Diskussionsrunde die Übernahme der Kinos in die kommunale Hand. Lehrer Sättler schob den Eltern einen großen Teil der Schuld am Kinoschund zu und schlug vor, „eine Kommission aus Kinobetreibern, Pädagogen und Künstlern zu bilden, welche die Prüfung der Filme durchzuführen hätte“. Dafür bekam er Beifall von allen Fraktionen im Saal. Direktor Pietzsch von den Städtischen Erziehungshäusern berichtete, „dass 100 Prozent der ihm überwiesenen Kinder das Kino überreichlich genossen haben“.

Natürlich kamen auch die Kinobetreiber zu Wort. Man verwies auf den wirtschaftlichen Schaden, den die bisherigen kinofeindlichen Aktionen hervorriefen. Millionen deutschen Kapitals ginge verloren. Man wandte sich scharf gegen die Stimmungsmache gegen Kinobetreiber und Filmproduzenten. Der Vorsitzende des Schutzverbandes Deutscher Lichtspieltheater, Arthur Templiner, forderte die rechtliche Gleichstellung des Kinos mit den Varietés und dem Zirkus.

Direktor Hesse vom hiesigen Olympia-Theater, damals Dresdens größtes Kino mit 450 Plätzen, am Altmarkt neben dem Kaufhaus Renner gelegen, erklärte, dass er schon früher zur Entspannung beitragen wollte. Da hatte er der einladenden Zentrale der Jugendfürsorge in Dresden angeboten, sein Kino kostenlos für Veranstaltungen zu nutzen. Man habe aber abgelehnt.

Rechtsanwalt Pittermann bemerkte, dass „die Vorzüge der Kinematographie so stiefmütterlich behandelt“ wurden und „das nicht in der Kinematographie, sondern in der menschlichen Schwäche das Übel begründet sei“. So in den Dresdner Nachrichten zu lesen.

Szene aus einem Kinofilm aus dem Jahre 1913
Szene aus einem Kinofilm aus dem Jahre 1913

Fazit

Kurz vor Mitternacht endete diese Konferenz. Die Teilnehmer hatten Durst und suchten Entspannung in kleinen Gruppen in den nahen Wirtshäusern. Zurück blieben verhärtete Fronten. Außer Spesen nichts gewesen? Nicht ganz. Typisch deutsch: Ein Aktionskomitee zur weiteren Verfolgung der Angelegenheit wurde gebildet.

Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.

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