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Wo heute das Thalia-Kino steht – Teil 2

Der zweite Niedergang
Das von den Gebrüdern Lemcke 1904 übernommene „Apollo“, firmiert unter dem Namen „Eden“ und wechselte Ende 1905 wieder den Besitzer. Neuer Herr über dieses „Paradies“ an der Görlitzer Straße wurde ein Jurist, der Geheime Hofrat Dr. C. Paul. Sein Büro hatte er auf der Prager Straße. Seine Geschäftsgrundlage waren Kauf und Verkauf von Immobilien. In Medingen bei Dresden besaß er zudem ein Rittergut.

Thalia Theater um 1910
Thalia Theater um 1910

Mit der Übernahme durch Hofrat Dr. Paul gab es zunächst wechselnde Direktoren und ab 1906 eine Kooperation mit dem Varieté-Theater „Deutscher Kaiser“ auf der Leipziger Straße 112 in Pieschen. Dessen Direktor Ernst Kolpe übernahm auch die Bespielung des „Eden“ als Beauftragter des neuen Besitzers.

Das Programm wechselte fortan zwischen Varieté und Possen. Investiert wurde nichts. Diese frühe Form von „Heuschrecken“ gab es also schon damals. Es ging wie heute nur um die Gewinnabschöpfung.

Programmmäßig wechselte die Burleske mit der Posse „Das neue Dienstmädchen“ mit Artistik und Clownerie, „Miss Cläre und ihrem rechnenden Hund“ mit „Sascha, dem Haar-Gladiator“.

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Zunehmend wurden aus Kostengründen fahrende Ensembles für mehrere Wochen eingemietet, so unter anderem das Kölner Burlesken-Ensemble Otto Endlein mit „Die lästige Witwe“, das Ensemble Parisiana mit den „Folgen einer Nacht“, Winter-Tymian mit seiner Truppe sowie die Original Leipziger Quartett- und Konzertsänger. Die Zuschauerzahlen und damit die Einnahmen gingen zurück. Neue Ideen fehlten.

Ab den 1. Juni 1910 ruhte das „Eden“, die Kooperation mit dem „Deutschen Kaiser“ in Pieschen wurde aufgelöst und der Laden vom Rittergutsbesitzer verkauft. Der schlechte geschäftliche Ruf der Neustadt nördlich der Anton- und der Bautzner Straße wurde dadurch weiter vergrößert. Doch Fortuna hatte noch einen Triumph im Ärmel.

Tymians Thalia Theater
Tymians Thalia Theater

Ein Glücksfall für die Neustadt

Das heruntergekommene „Eden“ übernahm ein in der Residenz und in der Unterhaltungsszene recht guter Bekannter – Friedrich Emil Winter, mit dem Künstlernamenszusatz Tymian (ohne h, wie er immer betonte). Geboren am 18. Dezember 1860 in Dresden in armen Verhältnissen. Sein Vater war ein Ausgeher. Nicht im Sinne Partygänger. Ausgeher nannten sich damals die Dienstboten.

Von wem er seine künstlerische Ader erbte, ist nicht bekannt. Diese drang jedenfalls beizeiten nach außen und hob ihn auf die Bühne. Er ließ sich auch von Rückschlägen nicht beirren. Er war Autodidakt. Seine Stimme war gut. Sein Humor kam an. Mit Zwanzig trat er als Salon-Humorist in kleinen Einrichtungen auf.

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Und er hatte noch andere Talente, die nach und nach zum Vorschein kamen: Schauspieler und Kabarettist, organisatorisches Geschick, wirtschaftlicher Durchblick, guter Umgang mit Geld, ein Auge für Marketing und Öffentlichkeitsarbeit, Führungs- und Teamfähigkeiten und einen Blick für künstlerische Talente, die er förderte. Zudem besaß er eine soziale Ader.

Er schrieb seine Possen, Lieder, Couplets und Satiren selbst. Und trat natürlich auch selbst auf. Kurzum, er war eine seltene Spezies, ein Multitalent, ein Tausendsassa, ein Optimist mit einem Riecher fürs Aktuelle und für Trends.

Anzeige zur Eröffnung des Tymian in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 1. Oktober 1910
Anzeige zur Eröffnung des Tymian in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 1. Oktober 1910

So schuf er 1895 sein erstes eigenes Ensemble und tingelte mit ihm durch die deutschen Lande. Sein Anspruch: höchste Qualität zu einfachen Preisen für Jedermann. Recht früh machte er sich zudem die damals neuen Medien wie Kino, Fotografie, Schallplatten und Werbung zu eigen. Erste Plattenaufnahmen sind aus den Jahren 1902 und 1905 bekannt. Mit der Zeit wurde er des Tingelns müde. Da kam ihm das Angebot, das „Eden“ zu übernehmen, gerade recht.

Ein neuer Stern am Unterhaltungshimmel

Und dieser erstrahlte ab dem 1. Oktober 1910 im Herzen der Antonstadt an der Görlitzer Straße 6. Die Dresdner Nachrichten schrieben darüber: „Herr Direktor Winter hat wirklich etwas Erstklassiges und Sehenswertes aus den alten Räumen gemacht und der Neustadt ein großstädtisches Theater beschert.“

Und in diese herunter gekommene Bude musste einiges investiert werden. Parkett und Ränge erhielten neuartige, dunkel gehaltene Klappstühle. „Das hängende elektrische Glühlicht gibt dem linoleumbelegten Foyer und den eleganten Erfrischungsräumen ein vornehmes Gepräge. Die Beleuchtung der Bühne geschieht durch Scheinwerfer vom ersten Rang aus. Kinematographische Bilder geben jeder Vorstellung einen gefälligen Abschluss“, schwärmte die Zeitung. Erneuert wurden die Lüftungs- und Heizungsanlage und das Restaurant samt Küche. Am Umbau waren nur Dresdner Firmen beteiligt.

Der neue Name: Tymians Thalia Theater (TTT). Damit hob man sich von den Vorgängern ab. Die Thalia ist als Göttin der Anmut eine der drei Grazien aus der griechischen Mythologie. In diesem Zusammenhang verkörpert sie die Üppigkeit bei Festen und Gelagen. Im christlichen Sinne wurde daraus die Gula, die fünfte Todsünde, das Sinnbild der Völlerei. Andererseits ist die Thalia die siebente Muse olympischer Prägung und verkörpert die komische Dichtung und Unterhaltung. Und auf diesem Hintergrund basiert die Namensgebung.

Der Eröffnungsabend

Zu Beginn erläuterte Friedrich Emil Winter-Tymian recht selbstbewusst vor ausverkauftem Hause sein Konzept. „Er habe der Neustadt eine Stätte der leichten Muse geschenkt. Er wolle weder Varieté- noch Kabarettvorstellungen, sondern eine gesunde Unterhaltung für alle Schichten der Bevölkerung bieten, in erster Linie von zweideutigen, politischen oder religiösen Anspielungen freien Humor, ferner Kunstgesang, Schauspielkunst, Kinovorstellungen und Weihnachtsmärchen“, war in den DN zu lesen. Mit anderen Worten, Winter Tymian hatte keine Lust, sich mit der Zensur anzulegen. Hier kam seine opportunistische Ader zum Vorschein, wie wir noch mehrfach lesen werden. Die vorhandenen Freiheiten nutze er jedoch aus.

Ein weiteres Markenzeichen des TTT: gute Kontakte zur Bevölkerung im Umfeld, günstige Eintrittspreise. Und noch etwas wurde in der Neustadt etabliert, was man aus heutiger Sicht nicht vermutete – die Damendarsteller.

Anzeige des Tymian Thalia-Theater in den Dresdner Nachrichten vom in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 2. Oktober 1910
Anzeige des Tymian Thalia-Theater in den Dresdner Nachrichten vom in den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 2. Oktober 1910

Ein kleines Fest der Travestie

Den Begriff Travestie gab es damals noch nicht. Männer, die in Damenkleider schlüpften, nannte man auf der Bühne Damendarsteller. Im Gegensatz zu diesbezüglich verkleidenden Herren über 21 Jahren im realen Leben, denen man den Prozess auf Grund des § 175 Reichsstrafgesetzbuchs (RStGB) machte. Da war die Bühne für einige von ihnen ein Ausweg. Als Pendant für die Frauen gab es die sogenannten Hosenrollen. Jede Herrenkünstlertruppe legte Wert darauf, dass mindestens einer von ihnen in die Damenrolle schlüpfte. Diese Darsteller waren sehr beliebt und wurden nicht verächtlich gemacht.

Auch am Eröffnungsabend präsentierte Winter-Tymian einen solchen Darsteller dem begeisterten Publikum. „Der Damendarsteller Fritz Sylvaré ist zweifellos einer der besten Interpreten in seinem Fach und brilliert durch prächtige, kostbare Toilette“, begeisterte sich die Zeitung. Fritz Thurm-Silvaré gehörte viele Jahre zum festen Ensemble des TTT. Auch andere Damendarsteller, wie Hans Renard, traten in Gastrollen auf. Selbst der Chef ließ es sich nicht nehmen, sich diesbezügliche Rollen auf seinen Leib zu schreiben. Übrigens ist nicht bekannt, ob Winter-Tymian selbst verehelicht war.

Postkarte mit dem Damendarsteller Fritz Thurm-Silvaré
Postkarte mit dem Damendarsteller Fritz Thurm-Silvaré
Damendarsteller Hans Renard - Postkarte von 1910
Damendarsteller Hans Renard – Postkarte von 1910

Der Leuchtturm strahlt in doppelter Hinsicht

Die Begeisterung der Zuschauer und der hiesigen Presse für das TTT verbreiteten sich nicht nur in der Landeshauptstadt, sondern auch darüber hinaus. Das war beste Werbung, die aber auch täglich durch gute Qualität der Show, durch harte Arbeit und Selbstverzicht untersetzt werden musste. Dessen war sich Winter-Tymian bewusst. Als Volkstheater zog die Görlitzer Nr. 6 Besucher aus ganz Sachsen an, sehr zur Freude der umliegenden Hotellerie, der Pensionen und der Gastronomie. Zudem war das Haus gut mit der Straßenbahn von den Bahnhöfen erreichbar. Die Haltestelle Louisenstraße war damals wie heute an gleicher Stelle. Damit gelang es, den schlechten Ruf der Neustadt zu mildern und der Neugier auf das, was hinter dem anderen Leuchtturm, dem Alberttheater, lag, die Straßen zu öffnen.

Winter-Tymian schrieb fast alle Stücke selbst. Sein kreativer Geist war rastlos. Ständig war er vor Ort und wohnte bis 1919 auch im Haus. Ihm ging es vordergründig nicht darum, schnell reich zu werden. Zeitlebens nahm er nur niedrige Eintrittspreise. Häufig lud er Kinder aus den Waisenheimen zu kostenlosen Vorstellungen ein, gab Sondervorstellungen für behinderte Kinder und für die Ärmeren der Neustadt auch Weihnachtsaufführungen. Von jeder Eintrittskarte spendete er nach dem Ersten Weltkrieg 5 Pfennig für die Krüppelhilfe. Im Viertel der Antonstadt (heute: Äußere Neustadt) war er deshalb und auf Grund seines herzlichen Wesens sehr beliebt.

Ein kleiner Gedenkstein befindet sich noch heute an der Fassade Louisenstraße 55.

(Fortsetzung folgt)

Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.