Während sich der Sommer 1925 in diesen ersten Julitagen des Jahres 1925 von seiner eher kühlen Seite zeigte und das Kränzchen der Neustädter Damen in das Innere des Narrenhäusel bannte, schwebte Adele Lampel mit einem Mona-Lisa-Lächeln und verklärtem Gesichtsausdruck, wie eine Feder durch das Lokal auf den Tisch ihrer Freundinnen zu. In Zeitlupe glitt ihr Mantel aus feinstem Musselin von ihrer Schulter, den Kellnerlehrling Leopold, genannt Leo, gekonnt auffing und dafür von Adele eine zärtliche Streicheleinheit bekam, die ihn wie immer erröten ließ. Herr Franz, der Oberkellner geleitete sie an den Tisch, wo ihre Freundinnen sie schon erwarteten.
Irritationen
„Hast du was genommen?“ fragte Frieda Lempke misstrauisch, ob dieses verklärten Blickes der Diva. Die Freundinnen haben vorher gerätselt, in welcher Stimmung sie Adele heute sehen würden. Martha Kruska erwartete eine Schauspielerin mit spitzer Zunge, Erna Schwuppke die Hoteliersgattin, eine freudig erregte und wie immer rotzfreche Diva und die Schneidermeisterin Frieda eine erhabene Dame, die die Blicke der Gäste ob ihrer Mode auf dem Laufsteg von der Eingangstür bis zum Tisch des Kränzchens genoss. Aber diesen Auftritt hatten sie nicht erwartet, jedenfalls nicht dieses Einschweben wie eine himmlische Göttin.
„Ach meine Lieben. Ich bin so glücklich“, seufzte Adele und trank das soeben vom Kellner Ewald, genannt Waldi, bereit gestellte Glas Sekt in einem Zug aus. Waldi kannte seine Diva und stand sozusagen bei Fuß mit Flasche in der Hand und goss nach, was ihm einen dankbaren Blick von Adele einbrachte.
Theaterpremiere
„Meine Lieben, was war das gestern Abend für eine großartige Premiere an meinem geliebten Alberttheater“, flüsterte Adele.
„Was gab es denn?“ fragte die Schneidermeisterin ebenso flüsternd.
Das trug ihr einen bösen Blick der Diva ein, die sie sogleich anherrschte. „Die lustigen Weiber von Windsor.1 Hättest ja mit deinem Göttergatten kommen können. Aber die Gnädigste zog es wieder mal vor, lieber in irgendeinem Esoterikkreis Tarotkarten legen zu lassen. Aber nichts für ungut. Von dir lasse ich mir meinen großen Erfolg nicht vermiesen.“
Und zu allen gewandt, fuhr sie leicht lächelnd fort. „Zehn Vorhänge oder waren es zwölf? Ist auch egal. Ich schwelgte im Beifall. Die Blumen, die mir für meine Rolle der Frau Fluth zugeworfen wurden, konnte ich gar nicht mehr umfassen. Aber was mir am meisten freudig erregte, waren die neidischen Blicke der Schlitzing, die die andere Hauptrolle der Frau Reich spielte. Die bekam nur acht Vorhänge. Das waren wie eine Gagenerhöhung für mich. Auf der anschließenden Premierenfeier wurde ich von den anderen Darstellern und dem Direktor umschwärmt und der Sekt floss in Strömen. Die Schlitzing hat irgendwann verbiestert die Feier verlassen.“ Dann winkte sie Kellner Waldi heran und ließ Sekt für alle bringen.
Die Nase betritt die Bühne
„Liebste Adele“, sprach verschmitzt die lebensfrohe Schneidermeisterin Frieda, „Wenn du deine Zuschauern belehren und von dir überzeugen willst, dann spreche mit den Augen. Wenn du aber wünschst, dass du ihnen gefällst und sie glücklich von deinem Spiel das Theater verlassen sollen, dann gibt es nur einen Weg.“ Stille am Tisch und bei den zuhörenden zahlreichen Gästen im Narrenhäusel, die wie immer extra an den Kränzchentagen Plätze reservierten. Alle schauten sich schulterzuckend an.
„Dieser Weg führt durch die… Nase“,2 fuhr Frieda fort. Nach kurzer Verblüffung prusteten fast alle los und konnten sich nicht beruhigen.
Erna rief Augen zwinkernd: „Du meinst doch nicht etwa das Hallimasch-Syndrom?“
Die Einzige, die dem Grund des Lachens nicht folgen konnte, war wieder einmal Martha. „Was hat denn dieser Schmarotzerpilz mit dem Premierenerfolg unserer lieben Adele zu tun?“, fragte sie ungläubig. Und wieder lachten die anderen drei.
„Ach Martha“, meinte Erna und wischte sich die Tränen der Heiterkeit aus den Augen. Das Hallimasch-Syndrom bedeutet nichts weiter als die richtige Lesart der Bezeichnung des Pilzes.“ Martha verstand immer noch nichts.
„Hallimasch ist die Verballhornung des Pilznamens. Er müsste hochdeutsch ‚Heil im Arsch‘ heißen, wegen seiner gastreibenden Wirkung.“ Diesmal lachten alle im Restaurant und Martha wurde rot wegen ihrer deppischen Frage.
Die Rolle der Nase
Nun ergriff Frieda wieder das Wort. „Das mit der Nase hat schon seinen Sinn. Ein amerikanischer Arzt, ein Dr. Free aus New York, will herausgefunden haben, dass durch Gerüche Erregungen hervorgerufen werden, Erregungen, die an unsere Urinstinkte anknüpfen sollen. Sagt zumindest dieser Free.“
Sofort setzte bei Adele das Kopfkino ein. „Wenn ich meine Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Mannsbildern im Bett Revue passieren lasse, könnte da was dran sein. Aber warum muss ich wegen dem Gefallen beim Publikum meine Körpergerüche über die Zuschauer verströmen lassen?“ Wieder lachte alles im Narrenhäusel. „Nun vielleicht reagieren die meisten Herren lüstern darauf“, fuhr Adele fort und verdrehte scheinbar konsterniert ihre Augen. „Aber wohl die wenigsten Frauen. Nüchtern betrachtet, würde das aber bedeuten, dass sich die Zuschauerzahlen dadurch erheblich reduzieren würden“ und energischer werdend, schleuderte sie Frieda entgegen: „Nein, meine liebe Frieda, so geht das nicht. Das schädigt meine große Kunst.“ Nun wurde es still. Alle warteten auf die Erwiderung von Frieda.
Das Frivole
Aber Frieda wäre nicht Frieda, wenn sie erwartbar reagieren würde. „Alles Quatsch. Es geht um die Nase. Und die reagiert bei jedem anders. So verweist zum Beispiel die Nase eines Mannes auf die Große seines Joh…“ Weiter kam sie nicht.
Mit Zornesfalten im hochroten Gesicht und geballten Fäusten brüllte Martha los, dass sie sich diese moralische Verkommenheit an diesem Tisch verbäte, was zwei der anderen die Augenlider verschämt schließen ließ. Aber nicht Adele. Sie lachte laut und legte ihre rechte Hand beschwichtigend auf Marthas Schulter.
„Meine Liebe, bleibe ganz ruhig. Ich kenne genug Mannsbilder und kann bezeugen, dass Frieda nicht recht hat“, was dieser ein wissendes Schmunzeln hervorlockte.
„Aber, liebste Frieda“, rief Erna, „was hat denn dieser Amerikaner mit der Nase eigentlich bezweckt?“
Wohl und Übel
Dankbar nahm Frieda das Thema wieder auf. „Seht, der Waldi bringt gerade ein Schnitzel an den Tisch dort drüber. Ihr habt sicher noch den Duft in der Nase, als er hier vorbei ging. Der war wunderbar und der machte Appetit. Mir jedenfalls. Wäre das Schnitzel völlig verbrannt gewesen, wäret ihr aus dem Narrenhäusel geflohen. Also hat unser Riechorgan erheblichen Einfluss darauf, ob wir bleiben oder vor Ekel gehen.“
Und Erna ging ein Licht auf. „Ich habe gehört, dass unser Zinken blitzschnell entscheidet, ob uns einer sympathisch, gleichgültig oder völlig unangenehm erscheint.“
„Ich kenne da einen Mann…“, warf Martha ein und wurde sofort von Adele unterbrochen. „Ach nee, du kennst Männer?“
Doch Martha ließ sich diesmal nicht beirren. „Ja, auch mir sind verschiedene Männlichkeiten in meinem Leben begegnet. Und ja, ich bin nicht auf der Wurstsuppe hierher geschwommen.“ Das saß und brachte die Diva in Verlegenheit, was die anderen mit Erstaunen quittierten.
Höre auf das, was deine Nase sagt
„Also, ich kenne einen Kollegen von meinem Mann, der reagiert allergisch auf Meerrettich. Er bekam, sobald er im Essen diesen Geruch wahrnahm, stets einen Wutanfall. Wir mussten ihn stets mit Gewalt daran hindern, dass er die Tische im Lokal nicht demolierte. Seit er aber sein Problem erkannte und daraufhin Meerrettich aus seinem Essen verbannt wurde, war er wieder der friedlichste Beamte, den es drüben im Rathaus je gab.“
„Und was sagt uns das, meine Lieben?“, warf Adele ein. „Unsere Nase und unser Geruchsempfinden sind nichts Primitives. Und ich gebe Frieda recht, dass Gerüche auch über unser Wohl und Wehe entscheiden können. Mich brachte schon des Öfteren ein Herr oder eine Dame in der ersten Reihe im Alberttheater mit ihrem Gestank so aus dem Konzept, dass ich sogar den Text vergas. Furchtbar.“
Kellner Waldi brachte die nächste Runde Sekt und der Alkoholpegel des Kränzchens näherte sich einer bedenklichen Stufe. Doch das störte die Damen noch nie.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 3. Juli 1925
2 Dresdner Neueste Nachrichten vom 5. Juli 1925
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.