Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein. Wenn sie keine Neustädter Urgesteine wären und sich quasi nicht seit Geburt kennen würden und zudem nicht auf der Hauptstraße bekannt wären, wie bunte Hunde, würde keiner vermuten, dass sie dicke Freunde sind. Der eine war der introvertierte, alleinstehende und einem Hungerhaken nicht unähnliche Carl Damm, seines Zeichens Königlicher Hofbuchhändler, dessen renommierter Buchladen sich unweit des Rathauses befand. Der andere, Gustav Günter, ein muskulöser, hochgewachsener Fleischermeister, ein Hans-Dampf in allen Gassen und mit seiner Gusche schneller als mit seinem Gehirn, machte dafür wohlschmeckende Wurst, die über die Neustadt hinaus berühmt war.
Eine kleine Auszeit
An diesem Nachmittag des 20. Juni 1905 nahmen beide eine Auszeit aus ihren Geschäften und spazierten vom Neustädter Markt kommend durch die Blockhausgasse auf die Elbwiesen. Ein leichter und trockener Wind aus dem Norden bei angenehmen 24° Celsius war für beide ein Wetterchen zu Wohlfühlen.
„Na, hat dich deine verstaubte Bücherjungfer Elise endlich mal losgelassen?“, witzelte der Fleischermeister. Der so angesprochene rümpfte pikiert die Nase.
„Was soll das, Gustav. Ich bin immer noch der alleinige Hofbuchhändler in der Neustadt“ und dabei lauter werdend, „und ich bestimme allein, wann ich in den Laden komme und aus ihm gehe. Punkt.“
Lachend klopfte Gustav Günter seinem alten Freund auf die Schulter. „Lass gut sein, mein lieber Carl, lass gut sein. Gehen wir ein Stück die Elbe abwärts.“
Bevor sie nach rechts in den Uferweg einbogen, begutachteten sie die vielen wilden Badenden unterhalb der Augustusbrücke, die sich den Eintritt in die 17 bestehenden städtischen und privaten Flussbadeanstalten innerhalb Dresdens nicht leisten wollten oder konnten. Davor elbabwärts erstreckte sich das große Areal des Johannes- und Sidonienbades mit seinen getrennten Damen- und Herrenbereichen. Hohe Bretterwände verhinderten Spannern oder auch nur allzu Neugierigen den Blick auf knackiges Fleisch beiderlei Geschlechts.
Regeln für Badende
Nachdem sich Fleischermeister Gustav am wilden Strand ausgiebig am Anblick der halbnackten Weiblichkeiten erfreute und der unbeweibte Carl Damm sich bemühte, dabei nicht allzu frivol dreinzuschauen, was ihm nur mit mäßigem Erfolg gelang, verwies Gustav auf die neuen Baderegeln, die seit Mitte Juni 1905 galten1 und für deren Einhaltung die Wohlfahrtspolizei der Stadt Dresden zu sorgen hatte.
„Die erste Regel scheint für dich gemacht zu sein“, begann Gustav mit Augenzwinkern. Diese Ironie mochte Carl gar nicht und verdrehte konsterniert seine Augen, was Gustav nicht daran hinderte, in seiner Litanei fortzufahren. „Bade nie bei heftigen Gefühls e r r e g u n g e n“, sprach er betont süffisant. „Das dürfte für dich kein Problem sein. Oder vielleicht doch. Ha, du Schlingel, du hast es vielleicht doch ganz faustdick in der Hose.“ Dann brach eine Lachkanonade aus ihm heraus und die Tränen der Schadenfreude ob des pikierten Gesichtsausdruckes seines Freundes durchnässten sein Taschentuch.
„Auch bei der nächsten Regel sehe ich keine Schwierigkeiten bei dir. Danach dürftest du nach einer durchzechten Nacht nicht in eins der Elbebäder steigen. Weder zechst du ganze Nächte durch, noch steigst du morgens in den Fluss. Du bist eben ein braver Bürger, wie ihn sich jeder Stadtrat nur wünschen kann.“
Carl hat sich inzwischen von den ironischen Seitenhieben seines Freundes erholt. Er kannte dessen Eigenart seit Jahrzehnten. Gustav palaverte noch über weitere Regeln und bemerkte zum Schluss, dass „man sich nach dem Bade rasch anziehen solle, dann etwa ein halbes Stündchen Spazieren gehen möge, um anschließend hungrig und durstend einen Biergarten aufzusuchen.“
„Ich schlage vor, mein lieber Carl, wir lassen das Baden und den Spaziergang aus und entschwinden gleich in den Biergarten vom ‚Stadt London‘ auf der großen Meißner Straße 11, Durst und Hunger hab ich schon jetzt“, hakte er sich bei Carl unter und so zogen beide zielstrebig dem Hort der Labsal zu.
Der Garten des Lokals war um diese Zeit nur mäßig besucht. Erst am späten Nachmittag füllte er sich mit viel Militär von der nahen Neustädter Wache und dem darin befindlichen Kriegsministerium.
Ballonauffahrt mit Frau
Das erste Bier verdampfte zischend in den Kehlen der Durstigen und der wissende Kellner brachte sogleich die nächste Runde. Nun wurde auch der Hofbuchhändler etwas munterer und erzählte vom Ausflug zu Pfingsten in den Dresdner Zoo.
„Stell dir vor, dort stieg doch wahrlich eine Frau in einen Ballon2. Sie nannte sich Miss Polly. Ob die Engländerin war, glaube ich nicht. Vorgestellt wurde sie als die erste ‚Aeronautin‘. Hunderte Familien waren zugegen und die Kapelle des Grenadierregiments spielte einen Marsch nach dem anderen. Zu essen und zu trinken gab es reichlich. Gegen 6 Uhr abends ging der Ballon unter großem Beifall und Hochrufen endlich in die Luft. Und diese Miss hat ihn auch noch gefahren. Unglaublich. Die hatte nicht mal Angst. Sie stand in einer Gondel, die die Form eines Pferdes hatte. Und so ‚ritt‘ sie quasi durch den lauen Abend in Richtung Süden. Im Wald bei Tharandt soll sie zu Boden gegangen sein. Ein paar Schrammen bei der Sturzfahrt durch die Bäume sowie ein paar Löcher im Gewebe soll sie dabei abbekommen haben.“
Durchgehende Pferde
Nachdem der Kellner die nächste Runde Bier gebracht hatte, diesmal mit jeweils einer Bockwurst mit Senf und Brötchen als kleiner Zugabe, setzte der Fleischermeister zu einer Geschichte aus dem wahren Leben an, wie er sagte. Mit ausgeprägter Dramatik begann er, so dass dem armen Carl das Blut in den Adern zu gefrieren schien.
Ohne Ziel sei er gestern über die Augustusbrücke über die Schloßstraße, dem westlichen Altmarkt in die Seestraße spaziert. „Über mir platzierte sich eine kleine dunkle Wolke, der ich aber keine Bedeutung beimaß. Plötzlich blitzte es auf und ein lauter, ein sehr lauter, ein absolut sehr lauter Donner dröhnte durch den Altmarkt. Es hörte sich an, als würde Thor3 persönlich vor Wut seinen Hammer auf den Altmarkt schlagen. Ich schrak zusammen und erwartete einen Wolkenbruch. Aber der kam nicht, auch kein weiterer Donner. Weniger Glück hatte eine Dame vom Hof. Die beiden Pferde vor ihrer Kutsche gingen plötzlich durch und rasten angsterfüllt in die Schaufenster des Ladens von Gürtlermeister Blume.4
Krachend ging dabei ein Schaufenster kaputt. Verschiedene Schmuckgegenstände wurde beschädigt, die Wagendeichsel des Gefährts ging zu Bruch. Die Pferde erlitten teilweise stark blutende Wunden und die Hofdame einen Schock, der sie auf die Kutschbank niedersinken ließ. Auch eins der Pferde bekam einen Schock und konnte sich vor Zittern kaum auf den Beinen halten. Zufällig waren ein Tierarzt und ein Rittmeister in der Nähe, die die Pferde beruhigten und versorgten. Das Fräulein vom Königlichen Hof erholte sich rasch und der galante Rittmeister geleitete sie ins Schloss zurück.“
Carl Damm applaudierte, bestellte eine weitere Runde und bemerkte bissig: „Ja, der Rittmeister war galant und du hast dich bestimmte unter die Arkaden verkrochen.“ Doch dass nahm der Gustav dem Carl nicht übel. Wer austeilt, muss auch einstecken können, war seine Devise und grinste sich eins. Mit weiteren Geschichten und noch weiteren kühlen Blonden vertrieben sich die Freunde den lauen Frühsommernachmittag.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 18. Juni 1905
2 Dresdner Nachrichten vom 13. Juni 1905
3 In der nordischen Mythologie ist Thor der Gott des Donners, der Stürme, des Himmels und der Heilung. Er ist der Sohn von Allvater Odin und der Erdgöttin Jörd. Seine Stärke und Tapferkeit symbolisiert seine Waffe, der Hammer Mjölnir.
4 Dresdner Nachrichten vom 16. Juni 1905
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.