Es war mal wieder einer dieser langen Nachmittage im Frühjahr 1990. Die Sonne hatte sich schon verkrümelt. In der Kneipe an der Alaunstraße steht die Luft voller Zigarettenrauch. Auf den grauen Teekisten tummeln sich Gitanes mit Schwarzem Krauser und Karo und ein paar Becher mit schwerem Rotwein.
Junge Männer mit wilden Bärten und langen Haaren hocken auf den Kisten. Einer hat einen Schreibblock auf den Knien. Die Stimmung schwankt zwischen Frustration und Sarkasmus und purer Lebensfreude. Die wilden Männer waren Anhänger der „Vereinigten Linken“ – die war im März bei der letzten DDR-Volkskammerwahl gerade richtig gegen die Wand gefahren. Gemeinsam mit den „Nelken“ hatte man ein Wahlbündnis gebildet und DDR-weit nur 0,2 Prozent der Stimmen eingesammelt. Das reichte zwar immerhin für ein Mandat in der ersten frei gewählten Volkskammer, war aber in Anbetracht des geschätzten linken Potenzials eben doch auch eine riesige Enttäuschung, die sich am besten mit schwerem Rotwein runterspülen ließ.
Die Wahlen hatten es gezeigt, das Wahlvolk der DDR wollte die Wiedervereinigung, so schnell wie möglich. Nix mehr mit Utopien, nix mehr mit einem besseren Sozialismus. Die Zeichen standen auf D-Mark.
Wir machen unsere eigene Republik
„Dann machen wir eben unsere eigene Republik“, ruft einer der Langhaarigen und stößt dann den Rauch seiner Selbstgedrehten genüsslich durch Mund und Nase aus. „Geile Idee – am besten hier in der Neustadt“, ergänzt ein Zweiter. „Lasst uns eine Verfassung machen“, sagte der mit dem Block auf den Knien. Als einziger in der Runde war er bartlos, über den braunen Augen spiegelte eine schwarze runde Nickelbrille.
„Vielleicht reichen auch erstmal ein paar Dekrete, auf jeden Fall brauchen wir eine ordentliche Regierung“. „Aber nur eine provisorische, das Ziel ist ja die Anarchie“. „Aber mit richtigen Ministern“. „Pässe brauchen wir und eine Währung, wir brauchen ’ne eigene Währung“. „Ja, lass uns 2 zu 1 tauschen“.
Die Gedanken, teils arg weingeschwängert, fliegen nur so hin und her. Am Ende der Nacht, die Sonne kletterte schon über die ersten Dachrinnen-Birken, am Ende der Nacht stand dann fest, die Republik wird einen Monarchen bekommen und Ministerien für Unkultur und Unterseeboote, aber auch für Wehrkraftzerfetzung, Pfuinanzen.
Der offizielle Inhaber der Kneipe drehte das Radio an und ein Panik-Rocker aus Hamburg tönte „Bunte Republik Deutschland“. „Das ist es doch“, rief der Schreiber mit der Nickelbrille. „Wir nennen uns ‚Bunte Republik Neustadt'“. Die anderen Beteiligten war offenbar zu betrunken, um ernsthaft zu widersprechen. Damit war die BRN geboren.
In den folgenden Wochen wurde der Gedanke vertieft. Die offizielle, provisorische Regierung wurde zwar nicht gewählt, aber sie schrieb jede Menge Dekrete auf und setzte einen Monarchen ohne Geschäftsbereich ein und bereitete zügig ein Gründungsfest vor.
Sie wählten das Wochenende vor der Währungsunion, die dann auch die Neustadt-Mark beeinflussen sollte. Für eine DDR-Mark gabs eine Neustadt-Mark in wunderbaren Scheinen. Außerdem legte die Regierung fest, dass für eine Neustadt-Mark zwei D-Mark hinzulegen sind. Die Flagge der Republik wurde zur Ost-West-Fusion. Mickey Mouse nahm den Platz von Hammer und Zirkel im Ährenkranz der DDR-Flagge ein.
Die hier aufgezeichnete Geschichte ist literarischer Natur und beruht auf Hörensagen. Sie kann aber Spuren von tatsächlich Geschehenem enthalten. Mehr zur Geschichte der BRN hier im Neustadt-Geflüster.
BRN – Bunte Republik Neustadt 1990 from Äußere Neustadt on Vimeo. Medienwerkstatt Dresden
War früher alles besser?
- Als kleine Erinnerungsstütze an die frühen 1990er Jahre habe ich in loser Folge ein paar Geschichten über die wilde Zeit von damals veröffentlicht.
- Alle Geschichten unter #Früher-war-alles-besser? oder in den Büchern „Anton auf der Louise“ und „Anton und der Pistolenmann“
