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Krach im Postamt

Als der Beamte Erich Sass des ehemaligen Kaiserlichen Militärpostamtes 15 auf der Königsbrücker Straße 90 in der Dresdner Albertstadt aufblickte, seufzte er hörbar. An diesem Sonnabend, der trübe Dezembertag vor Nikolaus, war die Schlange noch lang. Und das eine halbe Stunde vor Schalterschluss, was für ihn wieder Überstunden bedeutete. Und so wies er seinen Lehrling Friedrich mit ruhigem Ton an, die Eingangstür abzuschließen und jeden abzuweisen, der jetzt noch Einlass erbat.

Straßenbahn am Arsenal Königsbrücker Straße. In ungefähr dieser Höhe befand sich seinerzeit das Militärpostamt 15. Foto: Archiv Altes Dresden
Straßenbahn am Arsenal Königsbrücker Straße. In ungefähr dieser Höhe befand sich seinerzeit das Militärpostamt 15. Foto: Archiv Altes Dresden altesdresden.de

Als nächsten Kunden hatte er einen älteren Herrn vor sich, dem Aussehen nach ein wohlhabender Pensionär. Dieser überreichte ihm einen Brief, den er per Einschreiben zu befördern wünschte.1

Sass schaute auf die Adresse. „Macht 85 Pfennig, mein Herr“, antwortete er und wartete auf das Geld. Doch der Kunde zögerte und Sass hob seine linke Augenbraue irritiert nach oben.

Kaiserlich Deutsches Postamt 15 - Dresden-Neustadt - zeitgenössische Siegelmarke - Foto: Archiv Altes Dresden
Kaiserlich Deutsches Postamt 15 – Dresden-Neustadt – zeitgenössische Siegelmarke – Foto: Archiv Altes Dresden

„Entschuldigen Sie, werter Herr Postbeamter“, antwortete der Pensionär und ehemalige Regierungsinspektor a.D. der Königlich-Sächsischen Armee, Ludwig Steinhag, höflich. „Das ist wohl zu teuer. Dieses Einschreiben geht meines Wissens zum Inlandstarif.“

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Der Postbeamte Sass schaute auf und dem Steinhag lange in die Augen und merkte, dass es dem Kunden ernst war. „Nein, nein, mein Herr. Da irrt sich Ihr Wissen gewaltig. Der Brief geht doch nach Kowno. Und das ist eindeutig Ausland.“

Doch Steinhag ließ nicht locker. „Das ist wie Inland!“, beharrte er etwas bestimmter im Ton.

„Was? Wie Finnland?“, erwiderte Sass grinsend mit einem Wortspiel. „Sie sind witzig, mein Herr. Finnland ist eindeutig Ausland und zwar sehr eindeutig. Also, wollen Sie den Brief nun per Einschreiben losschicken oder nicht?“

Die in der Schlange wartenden Kunden wurden unruhig.

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Doch der pensionierte Regierungsinspektor ließ nicht locker. „Erstens liegt Kowno nicht in Finnland, sondern in Litauen und nennt sich heute Kaunas. Und zweitens gilt für bestimmte Gegenden in Litauen der deutsche Inlandstarif. Und nun machen Sie schon. Ich habe nicht die Absicht, meinen Sonnabendnachmittag hier im Postamt 15 zu verbringen.“

Ein anderer Kunde, der weiter hinten stand, rief entnervt, dass der Auslandstarif gelte, weil ein Postbeamter immer Recht habe. Doch die Dame, Traudel Esche mit Namen und wohnhaft auf der König-Georg-Allee2, widersprach dem Zwischenrufer hinter ihr. „Nein, nein, Sie haben nicht recht. Das Örtchen liegt wohl in Ostpreußen. Und da gilt der Inlandstarif.“ Dem stimmte ein anderer Herr, der in der Reihe weiter hinten stand, zu.

Inzwischen brach eine an Lautstärke zunehmende Diskussion in der Kundenschlange los und spaltete diese. Für die einen galt der Inlandstarif und nicht der doppelte Auslandstarif. Ein anderer Kunde weiter hinten fuchtelte erregt mit seinen Armen herum, so dass er einer Dame vor ihm den Hut vom Kopf riss. Diese kreischte wütend auf und klatschte dem Mann hinter ihr heftig ins Gesicht.

„Was fällt Ihnen ein, mich zu begrapschen, Sie Frauenschänder“, rief sie und schlug noch einmal zu.

Der geschlagene Mann gab sich geschlagen und verließ das Postamt unter wüsten Beschimpfungen, dass diese Zeiten, wo sich Frauen alles erlauben dürften, übel für das Vaterland seien, sie sich lieber um Haushalt und Kinder kümmern sollten und dieses Verhalten die Frucht des verlorenen Krieges und des Dolchstoßes der sowjetverseuchten Arbeiterschaft sei.

Auch diese Auseinandersetzung spaltete die Kundenschlange im ehemaligen Militärpostamt 15.

Die zeitgenössische Postkarte zeigt Schmidts Restaurant - an der Prinz-Georg-Allee 15 (heute Stauffenbergallee), Ecke Oppelstrasse (heute Rudolf-Leonhard-Straße).
Die zeitgenössische Postkarte zeigt Schmidts Restaurant – an der Prinz-Georg-Allee 15 (heute Stauffenbergallee), Ecke Oppelstrasse (heute Rudolf-Leonhard-Straße).

Doch der Postbeamte forderte mit kräftiger tiefer Stimme Ruhe, sonst schließe er das Amt und bediene nicht weiter. Als Ruhe einkehrte, wandte er sich wieder seinem Kunden mit dem Einschreiben zu und beharrte mit ernstem Ton auf seine Entscheidung.

„Also, Kowno ist nicht Ostpreußen, sondern Litauen. Und Litauen ist als eigenständige Republik Ausland. Und Ausland hat doppelten Tarif. Also zahlen Sie doppeltes Porto für ein Einschreiben.“

Doch Ludwig Steinhag blieb störrisch bei seiner Meinung und pochte weiter auf den Inlandstarif. Wütende Blicke erntete er vom Schalterbeamten. Wütende Äußerungen kamen auch aus der Schlange hinter ihm. Ein Kind quengelte an der Hand seiner Mutter. Andere riefen, er möge endlich bezahlen und dann verschwinden. Ein bulliger Typ drohte ihm Schläge an. Und als eine Dame im neusten Schick zaghaft meinte, dass der Regierungsinspektor a. D. doch auch Recht haben könnte, weil sie sich an den Erdkundeunterricht in der Schule erinnern konnte, dass Kowno die russische Bezeichnung für das litauische Kaunas sei und 1915 im Ersten Weltkrieg von deutschen Truppen besetzt wurde.3 Die Litauer machten im Februar 1918 Kowno/Kaunas zur Hauptstadt ihrer Republik, nachdem die eigentliche Hauptstadt Vilnius von polnischen Truppen besetzt wurde.4

Trotzdem ging der Streit unter den Kunden weiter.

Schließlich lenkte Erich Sass scheinbar ein und bestätigte, dass Kowno in Litauen, also im Ausland läge und jetzt Kaunas heiße. „Aber trotzdem gelte für den Brief dorthin der Auslandstarif.“

Nun brach wieder ein Tumult aus, weil die einen davon ausgingen, dass immer noch das deutsche Besatzungsrecht für Kowno/Kaunas gelte und damit der Inlandtarif und die anderen sagten, dass die Stadt eindeutig zum unabhängigen Litauen gehöre. Und eine dritte Partei entstand, die fordere, der Steinhag möge sich mit seinem Brief zum Teufel scheren. Schließlich warte ein vorweihnachtlicher Sonnabend und der Nikolaus verlange für die Kinder entsprechende Vorbereitungen. Die Sache schien ziemlich verfahren.

Da hatte Traudel Esche, die bisher geduldig hinter der Regierungsinspektor a. D. stand, die zündende Idee. Der Postbeamte möge doch bitte in den Tarifrichtlinien der Post nachschauen, welcher Tarif für diesen konkreten Fall nun gelte. Damit könne qua Amt der unsägliche Streit beigelegt werden, da die deutsche Bürokratie immer Recht habe.

Erich Sass, der Schalterbeamte, schalt sich einen Deppen, weil er auf diese Lösung nicht selbst gekommen sei. Eine angespannte Stille herrschte nun im Militärpostamt 15. Das Blättern in den Tarifrichtlinien der Post war bis zum letzten Kunden in der Reihe zu vernehmen.
Dann zeichnete sich ein Lächeln im Gesicht des Beamten ab. Doch der Regierungsinspektor a. D. ließ sich nicht vom freudigen Ausdruck des Beamten einschüchtern und lächelte ebenfalls.

„Mein lieber Herr, Kowno/Kaunas liegt in Litauen und demnach im Ausland.“

Dann machte er eine kleine Pause. „Aber wegen der von 1915 bis 1918 erfolgten Besetzung der Stadt durch die deutschen Truppen gilt für Kowno oder heute Kaunas nach wie vor der Inlandstarif.“ Beifall brandete ob der verquickten Lösung des Problems auf.

Nun ging es ganz schnell. Ludwig Steinhag bezahlte sein Einschreiben nach Inlandstarif. Und rasch wurden anschließend die Kunden der Schlange mit ihren Belangen bedient. Lehrling Friedrich schloss aufatmend hinter dem letzten Kunden und trotz Verspätung für diese Woche das Postamt um 15 Uhr ab.

Anmerkungen des Autors

1 Dresdner Nachrichten vom 3. Dezember 1925
2 heute Stauffenbergallee
3 Während der NS-Besatzung im Zweiten Weltkrieg hatte Kaunas den deutschen Namen „Kauen“. So hieß die Stadt auch zu Zeiten als Mitglied der Hanse und später der Herrschaft des Deutschen Ordens. 1918 bis 1939 war Kaunas Litauens Hauptstadt. Die Hauptstadt und Regierungssitz ist heute Vilnius. Litauen ist Mitglied der EU und der NATO.
4 Geschichte Litauen im „Infoportal östliches Europa“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

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