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Noch ein Kritiker-Skandal

Nein, es handelt sich hierbei nicht um die Fortsetzung der Hundekotgesichtsbeschmierung einer Theaterkritikerin des aktuellen Skandals aus 2023, ausgelöst von einem sich von dieser Journalistin beleidigt fühlenden Ballettmeister aus Hannover1. Es geht um den Hinweis, dass es zu allen Zeiten ein gespaltenes Verhältnis zwischen Künstler und Kritiker gab.

Restaurant an der Alaunstraße - zeitgenössische Postkarte
Restaurant an der Alaunstraße – zeitgenössische Postkarte

Folgen Sie mir in ein Restaurant in der unteren Alaunstraße an einem Nachmittag im Februar 1883. Dort versammelten sich etliche Schauspielerinnen, Herren des dramatischen Fachs und einige Größen der singenden Sparte des nahen Alberttheaters nach ihren Tagesproben zum entspannten Kaffeetrinken. Manche brauchten um diese Zeit schon ihr Gläschen Sekt, andere ein Bier oder ein Likörchen. Man gönnte sich ja sonst nichts und die Abendvorstellung war noch weit entfernt.

Die Premiere: Der neue Stiftsarzt

war das erste Thema. Gleich vier Exemplare der Dresdner Nachrichten machten die Runde. Und diesmal wurde diese Premiere sogar auf Seite 1 besprochen.2

Dresdner Nachrichten vom 19. Februar 1883
Dresdner Nachrichten vom 19. Februar 1883

Die Schauspielerin Rosi Bayer fasste sich ergriffen an die Brust. „Mich hat der Hartmann3 in seiner Kritik eine ‚milde und vornehme Äbtissin‘ genannt. Aber eins nehme ich diesem Bock übel, dass er mich als ‚ältere Damenpartie‘ bezeichnete.“

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„Biste auch. Aber wichtiger ist doch, dass das Stück von ihm nicht vollends in den Dreck getreten wurde“, erwiderte der ebenso nicht mehr ganz frische Max Richelsen. „Dass er mich aber als ‚Verlegenheitsrolle‘ betrachtete, ist eine Frechheit.“

Doch das Fräulein Link, das die weibliche Hauptrolle spielte, wischte alle Bedenken weg. „Lasst doch den Hartmann zufrieden. Irgendwie hat der ja Recht.“

Die anderen Damen empörten sich. „Du sei mal still. Dich hat er in den Himmel gelobt. ‚So munter naiv, so reich und fein schattiert und biegsam.‘ Auf welcher Couch hast du ihn von deinen Qualitäten ‚biegsam und anmutsvoll‘ überzeugt?“, rief die Köller süffisant.

Das ließ die Link nicht durchgehen. Wie von der Tarantel gestochen sprang sie auf und wollte ihrer missgünstigen Kollegin das Gesicht zerkratzen. Der neben ihr sitzende Franz Koberstein konnte sie gerade noch daran hindern und damit eine Kneipenschlacht vermeiden. Der oberste Mime Max lenkte das Gespräch schnell auf das Thema Nummer eins dieser Tage – die Skandalgeschichte um den bekannten Violinvirtuosen Waldemar Meyer von der Hofoper drüben am linken Elbufer. Sein Gegenpart war der bereits oben erwähnte, in der Theaterwelt gefürchtete Kritiker der Dresdner Nachrichten, Ludwig Hartmann. Wen der einmal auf dem Kieker hatte, der wurde seines Engagements auch in der kleinsten Schmiere4 nicht mehr froh.

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Und unser Stargeiger, der erst seit Kurzem in Dresden in der Hofkapelle spielte, leistete sich im Dezember 1882 einen Fauxpas bei einer Soirée in Leipzig. Dort fragte ihn die Gattin eines Musikverlegers nach seiner Meinung zum Kritiker Hartmann. Da er diesen Herrn nur dem Namen nach kannte und einiges von ihm in der Zeitung gelesen und von Kollegen gehört hatte, antwortete er zunächst höflich zurückhaltend, dass er ihm noch nicht begegnet sei. Um aber etwas interessantes hinzuzufügen, sagte er kryptisch, dass „die Dresdner Gesellschaft wohl gewichtige Gründe habe, sich von Herrn Hartmann zurückzuziehen“.5

Der Calculatror von 1883.
Der Calculatror von 1883.

Hätte er bloß seine Gusche gehalten.

Die Welt war auch damals schon ein Dorf und überreichlich gefüllt mit Klatschbasen aller Art. In Ermangelung heutiger Kommunikationsmittel machten sich die Äußerungen des Herrn Meyer mittels vieler Münder zwar langsam, aber trotzdem überdeutlich auf den Weg nach Dresden und dort in das Gehör des Starkritikers Ludwig Hartmann. Was ein Kritiker überhaupt nicht leiden konnte, waren Nörgeleien an seiner Person und Zweifel an seinen hochintellektuellen Einschätzungen. Er sah sich als das Amen in der Theaterwelt. Auch die gnädigste Gattin war außer sich. Was erlaubte sich dieser kleine Fiedler aus der hinteren Reihe des Orchesters der Altstädter Hofoper?

Das schrie nach Rache.

Bevor Herr Meyer wieder aus Dresden entschwand, sendete ihm Madame Hartmann eine unverfängliche, freundlich gehaltene Einladung. Er möge doch so nett sein, sie an einem bestimmten Mittag um 1 Uhr aufzusuchen, da sie ihm eine wichtige Mitteilung machen möchte.2 Und Meyer tappte in die Falle.

Frau Hartmann öffnete ihm liebenswürdig die Tür und bat ihn in den Salon. Unerwartet für ihn erschien aus einem Nebenzimmer der Herr Erwin Reichardt, der Sohn des Besitzers der Dresdner Nachrichten. Dem immer blasser werdenden Meyer warf er vor, dass er im Dezember 1882 bei dieser erwähnten Soirée in Leipzig behauptete, ‚dass Frau Hartmann Geschenke von Künstlern annehme und folglich danach das Maß der Kritik ihres Mannes angelegt sei‘.2

Meyer sank in seinem Sessel immer mehr zusammen. Dann sprang die Gnädigste auf und schlug dem Geiger mit beiden Händen ins Gesicht. Damit nicht genug, nahm sie eine Reitpeitsche und drosch damit auf ihn ein.

Dabei schrie sie. „Sie infamer Mensch. Sie haben den guten Ruf meines Mannes herabgewürdigt. Aber ich habe ihm gesagt, ‚geh in die Kneipen. Und die ganze Gesellschaft, die dich verleumdet, ohrfeige und schieße sie nieder.‘ Ich kenne diese feine Gesellschaft und werde jeden Einzelnen auf diese Weise wie Sie belangen.“2

Nachdem Meyer sich wieder gefangen hatte, entriss er der Hartmann die Peitsche und schleuderte sie weg. Der Juniorchef der Dresdner Nachrichten hob sie auf und bekräftigte mit Schlägen in die Luft die Worte der Kritikergattin.

Als der Geiger die Wohnung verlassen wollte, war diese verschlossen. Nach einem hitzigen Wortgefecht kam er endlich frei. Selbstverständlich übergab er die Angelegenheit dem Gericht. Und nun wartete die Dresdner Gesellschaft auf die Fortsetzung dieser Komödie und, fast platzend vor Neugier, auf weitere Details aus den verruchten Künstlerkreisen der Residenz.

Und auch die Mimen5 im Restaurant auf der Alaunstraße harrten gespannt darauf und ließen schon einmal die Gerüchteküche warmlaufen. Dazu genehmigte man sich selbstverständlich noch ein Gläschen Sekt, ein Likörchen, das eine und andere Glas Weiß- oder Rotwein oder ein süffiges Bierchen.

Anmerkungen des Autors

1 weitere Infos dazu im NDR
2 Dresdner Nachrichten vom 19.Februar 1883
3 damals Theaterkritiker der Dresdner Nachrichten
4 verächtliche Bezeichnung eines Theaters mit minderer schauspielerischer Qualität und primitiver Ausstattung
5 Das Interview erschien in „Der Calculator“ Nr. 534 von 1883
5 andere Bezeichnung für Schauspielerinnen und Schauspieler


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

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