Am Dienstag ist Ingo R. in einem Dresdner Kankenhaus an Lungenkrebs gestorben. Wahrscheinlich war sie 78 Jahre alt. Sie wird der Dresdner Neustadt fehlen. Es bleiben unzählige Menschen zurück, die sich an diesen schrägen Vogel erinnern werden.
Ingo die Künstlerin
Es gibt Geschichten über Ingo R., die gibt es gar nicht. Man müsste jede dieser Geschichten irgendwie überprüfen – oder eben nicht. Denn für Geschichten hat sie selbst am liebsten gesorgt. Eine dieser Geschichten dreht sich um ihren Geburtstag. Ingo hatte bereits mehrfach zu ihrem 80-Jährigen eingeladen – obwohl sie noch gar nicht so alt war.
Eine weitere Geschichte ist diejenige, wieso Ingo überhaupt in Dresden gelandet ist. Das war ungefährt 1995. Auf Durchreise mit ein paar Kumpels wollte man einen Zwsichenstopp machen. Ingo blieb in Dresden kleben. Das läge am Licht, hat sie gesagt.
Dieses Licht gibt es sonst nur in Philadelphia und vielleicht noch in Zürich, so ihre Behauptung. Dresden war für sie „ne Wundertüte, in die man einfach nur reingreifen muss und dann hat man irgendeinen interessanten, zappelnden Mensch an der Leine“. Das sagte sie anlässlich eines Videodrehs vor etwa zwei Jahren.
Wie Ingo tanzte, ist eine weitere Geschichte. Wie Elektra: Ekstatisch, riskant, sich verschenkend. Wie Ingo schnitzte, sang, malte. Wie minutiös sie mitunter Tagebuch führte und wie sie kleine Kunstwerke in ihre Tagebuchseiten eingewickelt verschenkte.
Wie Ingo trank – immer aus ihrem eigenen Zinnbecher, egal in welcher Kneipe man ihr begegnete.
Ingo R., die Politikerin
Sie soll irgendwo im Schwarzwald die erste Fechtschule für Frauen gegründet haben. Sie hat Demonstrationen zur Befreiung von Nelson Mandela organisiert. Sie hat einem im Gespräch über Frauenrechte auch schon mal an den Kragen gepackt. Mit vollem Körpereinsatz gegen das Patriarchat. Hatte sie dann mal jemanden überfordert oder verschreckt, bekam man einen ihrer Lieblingssätze zu hören: „Sei friedlich mit mir.“
Ein steter Unruhegeist, eine Mauerseglerin: Leben im Flug, in hohen Lüften. Rastlos, voll Pirouetten, lustvoll im Überwinden der Grenzen. Die Beine höchstens kurz unter den Stehtisch gesteckt, dann wieder weiter, weiter.
Wer Ingo sah und traf, begriff ganz unweigerlich, dass „Ahnung haben“ seine Wurzeln bei den Ahnen hat. In den weichen Bewegungen der Hände, den kritisch zusammengezogenen Brauen, den Lippen, die die Zigarette fest hielten, im unverwandten Blick. Weise geworden durch einen nie versiegenden Quell von Verwundern und Fragen. Ingo lag dicht an, an dem großen Puls, älter als die Welt. Ihre mäandernden Wege unterlagen den Weisungen eines unbeirrbaren inneren Kompass. Wenn Ingo R. ging, dann all in.
„Sich selbst aufs Spiel setzen“ heißt ein Gedichtband von Silvio Colditz. Der Buchdeckel zeigt einen gesprenkelten Raubvogel, balancierend auf der Spitze eines Astes. Ein Bild, das für sie gelten kann. Wir wünschen Wind unter den Schwingen und grüßen – die vereinzelten Sonnenstrahlen über dem Elbtal, die pfeilschnellen Dreiecke der Mauersegler, das Stampfen der Füße im Rhythmus der Trommeln.
Mach es gut, Ingo R. Adieu!
Am 18. Januar 2023 oder 28. Januar 2023 sollte in der Dresdner Kneipe Red Rooster Ingo R.s nächste 80. Geburtstagsfeier stattfinden. Nach ihrem Tod findet sie dennoch statt. Es wird bald ergänzt werden, wann genau die Feier stattfindet. Werke von ihr unter: www.ingorpunkt.de
Text von Jakub & Philine.
Nachtrag
Die Beisetzung findet am 28. Januar 2023, 13 Uhr auf dem Heidefriedhof in Dresden statt.
An folgenden Stellen im Hechtviertel hat man die Möglichkeit, seine Anteilnahme durch eine Spende auszudrücken:
Weinselig, Martinez, Dräggscher Löffel, Kolja, Hecht Spätshop oder über den Hechtviertel e.V.
Auf der Seite vom Hechtviertel e. V. gibt es die Möglichkeit per Paypal unter dem Stichwort INGO R. eine Spende zu hinterlassen.
Danke
Hier scheint ein Fehler unterlaufen zu sein. Inge meinst du bestimmt?
Ingo ist ja ein männlicher Name, also er und nicht sie.
Nein, kein Fehler. Sie nannte sich Ingo R.
Danke! Ihren Standardsatz „Sei friedlich mit mir“, wenn man es „wagte“, ihr in Diskussionen zu widersprechen, er wird uns fehlen! Ruhe in Frieden, altes Mädchen! Die letzte angebrochene Flasche, Ingo R`s unvollendete, wir werden sie in Ehren halten. (Ich glaube, sie plante ihren 80igsten, der im Januar gewesen wäre, im „Red Roosters“. Doch wer kann es schon genau wissen? Sie war eine Frau mit vielen Rätseln.)
https://pbs.twimg.com/media/FkryiHlXwAAL8XJ?format=jpg&name=900×900
https://twitter.com/Dramatiker2/status/1606363407447269376
„Ingo blieb in Dresden kleben. Das läge am Licht, hat sie gesagt.“ Deshalb stand sie bisweilen 2 bis 3 Stunden auf der Fritz-Reuter-Straße, verzückt Richtung Hansastraße in den Himmel blickend und dabei über das ganze Gesicht strahlend. Ich werde sie vermissen!
Danke für diesen poetischen Nachruf. Passt.
Alle, die ich kenne, die Ingo kannten, sagen Ähnliches: „Gott, hat sie genervt. Gott, wird sie fehlen.“
Machs gut, Ingo!
Hej ,wenn ihr ein Info hat wo und wann die Beerdigung stattfinden, bitte, bitte Veröffentlichen?! und DANKE
Ein sehr passender Nachruf für eine herrlich unangepasste Ingo R. Danke
Danke für diesen wunderschönen Nachruf.
Ingo R. hat das Leben in der Dresdner Neustadt und im Hechtviertel für alle viel bunter gemacht. Ich habe sie als einen sehr loyalen Menschen kennengelernt. Danke Dir, Ingo R.
RIP Ingo R.
Sie war meine geliebte, kleine Schwester. Alles was in dem außergewöhnlichen und schönen Nachruf steht passt zu ihr.
Von Herzen Dank dafür !
Meine ganze Familie und ich werden sie immer lieben !
Vielen Dank auch für die Info! Dass der Tag ihrer Beisetzung ausgerechnet auf den Tag ihres 80. Geburtstags gelegt wurde, empfände sie sicher als runde Sache und angemessen.
Auch von mir Dank für diesen wunderbaren Nachruf Jakub.
Ja Ingo R. war ein Paradiesvogel und wahre Künstlerin aus dem Schwarzwald
der sich Dresden als Heimat aussuchte.
Jeder der Sie kennenlernen durfte, mit Ihr diskutierte, das Leben feierte wird Sie nie vergessen.
Danke Ingo R. !
Liebe Freunde von Ingor,
wie ich sie nannte, damals 1995 als wir
uns im Szeged, wo sie zusammen mit ihrer langjährigen Künstlerfreudin
Beate Bollinger bei Wein und Kaffee die dortige Szene der Stammgäste
mit wilden Geschichte unterhielt.
Eine Begegnung die sofort erkennbar auf einer Wellenlänge stattfand.
Gesprächsthemen sich ergänzten, ein begleitender Weg für viele Jahre geöffnet wurde.
Ich selbst war in diesem Jahr nach 10 Jahren im Westen und da 1994
wirklich aufgewacht, als Denker und Schreiber nach Dresden zurück
gekommen.
Skizzierte und malte dann hier die ersten Bilder zu meinen Texten.
Ingor und Beate waren mir sofort Freunde und häufige Treffen,
gemeinsame Ausflüge, ewige Gespräche und so mancher Versuch der
Beiden mich irgendwie über irgendwas noch aufklären zu wollen, wo
doch immer nur das Erkennen des bewussten gemeinsamen in der Zeit
die Bestätigung des Sinnes gab.
Das was ich durch diese Frauen in der Umsetzung der Gedanken in
allen Projekten sofort begriff und meine schon angefangene Arbeitsweise
dadurch bestätigt für nunmehr Jahrzehnte ausrichtete, war der Umgang
mit Material. Auf allem kann gemalt werden, z.B. auf Stoffen die keinen
vorgefertigten Rahmen brauchen, mit wenig Farbe und am liebsten Acryl.
Die Bilder wo jede Woche neue hinzu kamen waren an allen Wänden
einfach mit ein paar Nadeln befestigt, standen und lagen zu mehren
zusammengerollt in den Zimmern, wurden häufig einfach an freundliche
Begegnungen verschenkt.
Grad heute da lag nach Jahren eins dieser, in der Nacht vom Wind der
durchs geöffnete Fenster wirbelte herunter gerissen über der Truhe
darunter.
Mit Magneten suchte ich hinter dieser, wo dutzende Bilder aufgerollt
lagen die beiden Haltenadeln. Schaute dabei auf ein Spezielles Bild,
das 1998/99 angefangen ein gemeinsames Projekt von Ingor und
mir werden sollte und dann beim Kaffee denk ich, sieh mal nach
im Internet und rede nach den Jahren mit ihr, den mit Beate hast du ja
auch vor Jahren mal gesprochen.
Wir sind damals, wo ich beim Umzug in die Hechtstrasse noch viele
Touren von der Pfotenhauer gefahren bin, nach deren erster
Performance Ausstellung im Keller des Innenhofgebäudes, nach einem
recht wirren Hexenritt in die Schweiz und an den Rheinfall getrennte
Wege gegangen.
Das gemeinsam angefangne Bild ist geblieben, schöne und intensive
Erinnerungen an meine Anfangsjahre, viel Zeit dabei mit den beiden Frauen die mich gedanklich, geistig immer forderten, Wissen
hinterfragten und ungewollt ein Beispiel für Streben und Genügsamkeit
waren, dann noch ein paar Fotos die Ingor von mir bei einem SpiritualDance während der Hecht-Performance machte.
………………..
Für Diejenigen die von den Dingen wissen noch dies. Denn so getrennt
sind die Wege dann doch nicht gewesen. Als Wesen ist mir Ingor
schon Jahre danach als einer meiner Nachbarn der malte, dachte, forschte und an einem mächtigen Buchwerk schrieb wieder begegnet
und bis ins vorige Jahr hab ich einiges getan um mit ihm gemeinsame
Zeit im Werdegang die über das, ein guter Nachbar sein hinaus ging, zu haben.
Liebe sei mit euch. Mosis T.