Ja und nein. Die beiden Jahre vor dem Ersten Weltkrieg gelten aus der heutigen Fernsicht als eine gute Zeit, als eine Zeit des Fortschritts und eines zunehmenden Wohlstandes, der erstmals alle Schichten der Bevölkerung betraf. Oberflächlich betrachtet, stimmte das. Doch der Schein trügt.
Schauen wir mal in die Statistik des Jahres 1912 für die Großstadt Dresden mit ihren über eine halbe Million Einwohnern. Der Fleischverbrauch war enorm. Und zwar so enorm, „dass die Menge an Rindern, Schweinen, Schafen, Pferden in einer Arche Noah nicht untergebracht werden könnten“, schrieben die Dresdner Neuesten Nachrichten am 13. Juli 1913.
Was so verzehrt wurde
In konkreten Zahlen waren das: 9.350 Bullen, 9.928 Ochsen, 12.263 Jungrinder, 80.550 Kälber, 42.789 Schafe, 179.083 Schweine, 59 Ziegen, 1.512 Pferde und, halten Sie sich fest, auch 108 Hunde!
Ehe ein entrüsteter Aufschrei durch Dresden rauscht und Hundehasser Beifall klatschen: Heutzutage darf das Fleisch von Hunden, wie auch von Katzen und Affen laut deutschem Lebensmittelrecht (Tierische Lebensmittel-Hygieneverordnung und der Lebensmittel-Einfuhrverordnung) nicht zum menschlichen Verzehr gewonnen und auch nicht zu diesem Zweck in den Verkehr gebracht, also auch nicht importiert werden. Zu Recht. Aber damals wohl nicht.
In Krisen- und Kriegszeiten, wie zuletzt nach dem Zweiten Weltkrieg, war das anders. Und das gehört auch zur Wahrheit. Da scherte sich niemand um ein Lebensmittelrecht. Es ging ums Überleben. Katzen waren als „Dachhasen“ auf dem Sonntagsmittagstisch begehrt und Hunde ein höchst seltener Anblick in der Stadt.
Die soziale Frage
Im Jahre 1913 beschäftigte sich die bürgerliche Presse mit der Frage, ob der schwankende Fleischverzehr einen Blick in die soziale Lage der Stadtbevölkerung, besonders in die der Unterschichten in Löbtau, Pieschen, dem Hechtviertel und der Antonstadt gestatte.
So schwankte der Pro-Kopf-Verbrauch 1913 zwischen 4,27 Kilo im Januar und 3,96 Kilo im Mai. „Es zeigt sich darin die Einwirkung des allgemeinen Rückschlages in unserem Wirtschaftsleben. Das Fleisch ist das erste Nahrungsmittel, an dem gespart wird. Der geringste Rückschlag auf dem Arbeits- und Erwerbsmarkte registriert sich scharf im Fleischverbrauch“, stellten die Dresdner Neuesten Nachrichten fest.
Die Zeitung konstatierte zudem auch einen Mangel an statistischen Erkenntnissen über das tatsächliche Leben in den Arbeiterfamilien. Eine andere Quelle beschreibt laut DNN einen weiteren Sachverhalt: „Die Tatsache, dass in den unteren Schichten jeder wirtschaftliche Rückgang sogleich einen ‚Muss-Vegetarismus‘ im Gefolge hat, findet in den Berichten der Volkswohlfahrt Bestätigung.“
Vegetarisch – die neue Art des Essens
Sie wurde das Credo in den Bestrebungen der neuen Lebens-Reform-Bewegungen seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts auch in der sächsischen Residenz. Diese Bewegungen verbreiteten sich in gut situierten bürgerlichen Kreisen, unter Intellektuellen, unter Künstlern und höher qualifizierten Facharbeitern.
In den Dresdner Nachrichten vom 14. Juni 1913 war zu lesen: „Milch, Ei, vegetarische Kost ist das Gesündeste, nicht nur wegen der leichten Verdaulichkeit, sondern auch deswegen, weil in solcher Speise die wenigsten schädlichen Substanzen für unsere verschiedenen Organe enthalten sind. … Die wohltuendste Wirkung auf die Gesundheit und Arbeitsfreudigkeit wird nicht ausbleiben, wenn man als Tischgetränk extra noch kalte Milch wählt.“
Weiter zitiert das Blatt einen Karlsbader Arzt, der erklärt, dass eine solche Lebensweise ideal gegen Arterienverkalkung, die beste für Leber- und Gallensteinkranke sei, ferner im Darm keine schädlichen Bakterien, wie solche durch reichlich Fleischkost entstehen, aufkommen ließ. „Wenn aber so verschiedene Kranke bei dieser Kost Besserung finden, umso mehr muss der Gesunde davon profitieren und sich damit seine Gesundheit und Jugendfrische bewahren“, so die DN im Juni 1913.
Die Arbeiterfrauen im Hechtviertel hätten darüber nur verständnislos den Kopf geschüttelt und den Feministinnen und Reformanhängern den Vogel gezeigt. Sie konnten ihrem zwangsweise ausgeübten „Muss-Vegetarismus“ nichts Positives abgewinnen. Damit einen schwer arbeitenden Mann und eine Kinderschar mit dem wenigen Geld satt zu bekommen, war nicht leicht. Und das verstanden die Reformer wiederum nicht. So waren die Verhältnisse.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.
Wenn der Autor davon schreibt, dass Hundefleisch heute „zu Recht“ nicht zum Verzehr in Verkehr gebracht werden darf – was sind denn die Gründe für diese Regelung? Das erschließt sich mir nicht.
Interessanterweise ist das erst seit 2010 mit der Neureglung des Paragraphen 22 der Verordnung über Anforderungen an die Hygiene beim Herstellen, Behandeln und Inverkehrbringen von bestimmten Lebensmitteln tierischen Ursprungs so. Warum diese Regelung damals eingeführt wurde, weiß ich jedoch auch nicht.