Ungewohnte Klänge schweben über den Scheune-Vorplatz. In den Beinen der Tanzenden verwandeln sie sich in anmutige Bewegungen, in den Gesichtern der Vorbeispazierenden in Neugier. Die Dauergäste mit der obligatorischen Bierflasche in der Hand verfolgen gebannt das Geschehen vom Rand aus.
Der Tango erobert den Platz. Eine Szene, die zur Zeit jeden Dienstagabend zu sehen ist, ausgestaltet von der Company Tango/Theater – offen und bunt. Es sind Menschen aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichen sozialen Hintergründen, die dort zusammenkommen. Verbunden sind sie durch mindestens eins: die Liebe zum Tanzen.
Ein Zeichen des Willkommens
In eben der Idee, Menschen zusammenzubringen, liegt der Ursprung des Projekts.
Wir schreiben das Jahr 2016, Dresden droht dominiert zu werden von Fremdenfeindlichkeit und Hass. Zum Glück jedoch sind es nicht nur Pegida und Co, die die Medien, die Gedanken und die Stadt bewegen. Auch andere Stimmen werden laut; möchten Misstrauen und Ablehnung eine Willkommenskultur entgegensetzen.
So auch Damaris Ehninger und ihr jetziger Ehemann Cristian Javier Castaño, der zu dem Zeitpunkt noch in seinem Heimatland Argentinien weilt, aber kurzerhand den Weg nach Deutschland antritt. Die beiden organisieren einen Tango-Flashmob auf der Prager Straße, um ein Zeichen zu setzen, schon damals unter dem Motto „offen und bunt“.
Schon bald geben die beiden erste Tanzkurse – im Montagscafé, dem interkulturellen Treff des Staatsschauspiels Dresden. Der Tango kommt so gut an, dass der Wunsch nach regelmäßigen Veranstaltungen laut wird. Bald wird er erfüllt und über die Cellex Stiftung wird das Projekt ins Leben gerufen, das nun dreimal wöchentlich in Vereinen in Johannstadt und Prohlis kostenlos zum Tanzen einlädt. (Zumindest unter nicht-pandemischen Umständen..)
Wie auch Sachsen einen Beitrag leistet
Das Konzept ist ein Erfolg; die Gruppe kann mit einer großen und bunten Mischung an Nationalitäten aufwarten und wächst regelmäßig an. Für viele ist sie nicht nur ein Tanzkollektiv, sondern auch eine Familie. Das gilt zum Beispiel für María Tapia de Kordt, die eigentlich Inhaberin des Mercadito auf dem Bischofsweg ist und mittlerweile an der Projektleitung beteiligt ist.
Warum Tango und Interkulturalität so gut zusammenpassen, erklärt Damaris: „Im Tango gibt es keinen festen Grundschritt. Um sich im Einklang zu bewegen, müssen die Tanzenden sich also aufeinander einstellen; jenseits von Sprache miteinander kommunizieren. Ein Verständnis füreinander finden, ohne je den Respekt für die Grenzen des oder der anderen zu verlieren.“
Außerdem ist der Tanz ein Sinnbild dafür, wie das Aufeinandertreffen verschiedener Einflüsse eine Kultur nicht zerstört, sondern erschafft und weiterentwickelt. Der Tango hat argentinische Wurzeln, wurde von Einwanderungen beeinflusst, trägt einen afrikanischen Namen und hat sogar einen tiefen Bezug zu Sachsen: das Bandoneon, das aus einem Tango-Orchester nicht wegzudenken ist, stammt ursprünglich von hier.
Kultur statt Kriminalität
Dieses Bild von Gemeinschaft und Integration weiterzutragen, ist einer der Gründe, das Tanzen regelmäßig nach draußen auf die Straße zu verlegen. Die zusätzliche Motivation: ein fieses Virus, das sein unerschöpfliches Aufmerksamkeitsbedürfnis hier geltend macht in den Abstandsregeln und einer beschränkten Teilnehmendenzahl (vorherige Anmeldung erforderlich!).
Von der momentanen Ortswahl profitiert zudem die Scheune selbst, indem der Vorplatz, dessen Ruf nicht eben von Ruhm gesegnet ist, aufgewertet wird.
Nach außen tritt das Projekt auch noch auf eine andere Weise: neben Ochos und Corridas werden auch Theaterstücke und Performances eingeübt, die Cristian – als studierter Literaturwissenschaftler mit dem entsprechenden Knowhow ausgestattet – selbst verfasst. Für das aktuelle Stück „Die Sitzmenschen“ sind im Oktober zwei Aufführungen geplant, außerdem wird eine neue Installation beim Ostritzer Friedensfest im September zu sehen sein.
Dort können dann auch alle, die sich das Tanzen und Schauspielern (bisher) nicht selbst trauen, teilhaben an der offenen und bunten Botschaft.