Stürmisches Klingeln an der Haustür ließ die Hausdame Rosi aufschrecken. „Los Friedel, schau nach, wer hier so nervtötend läutet. Sicher irgendein Postbote für das Labor, der meint, wir seien vor Langeweile eingeschlafen.“
Das Hausmädchen ging eilenden Schrittes aus dem Souterrain hinauf in die Diele. Nach kurzer Zeit kam sie zurück. „Frau Flecht, es war kein Bote, sondern die Nichte der Hausherrin und ein Mann. Ich habe sie in die Bibliothek gebracht.“
„Friedel, so redet man nicht über Gäste, und gebracht werden diese schon gar nicht“, tadelte die Hausdame das Mädchen. „Du lernst das nie“, seufzte sie. „Wir sind hier in einem herrschaftlichen Haus und nicht in einer billigen Absteige.“ Sprach’s, und sie eilte in das Wohnzimmer der Herrschaft im ersten Stock, um die Hausherrin Hedwig Markus von der Ankunft ihrer Nichte zu informieren.
Dieses Haus beherbergte seit 1919 das hoch angesehene und privat geführte Öffentliche Chemische Laboratorium Dr. Erwin Kayser auf der Glacisstraße 91. Inhaber war der vereidigte Chemiker Dr. Ing. Adolf Markus. Er wohnte mit seiner Familie seit 1913 in diesem Haus.
In der Bibliothek
Derweil schauten sich die Gäste in diesem dunkel getäfelten Raum um. „Ich hätte diese Holzwände schon längst rausgerissen. Alles wirkt so düster und drückend und so unmodern“, rief Charlotte Frenzel, die junge Nichte der Hausherrin, ihrem Begleiter zu. Dieser brummte nur etwas Unverständliches und legte seinen leichten Sommermantel über einen Sessel. „Ich find’s gut“, sagte er dann. „Hat was von Gediegenem und Seriösem“, und näherte sich einer Vitrine, in der verschiedene Ausstellungsstücke standen, die allerdings wenig mit einer Bibliothek gemein hatten. Dabei merkten sie nicht, dass die Hausherrin Hedwig und ihr Mann Adolf, der Laborleiter, die Bibliothek betreten hatten.
„Lotte, meine Gute, willkommen. Welch unerwartete Freude. Und wer ist dieser gut aussehende Herr?“, rief Hedwig und betrachtete mit Wohlwollen den jungen Mann.
„Das ist Karl Frenzel, mein Quasi-Verlobter“, sagte sie und tätschelte ihm die linke Wange, was ihm peinlich war und eine Röte inbs Gesicht trieb. Hedwig und Adolf konnten sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Also, Herr Quasi-Verlobter, herzlich willkommen. Es wurde aber auch Zeit, dass ihr beide euch mal sehen lasst. Deine Cousine Sophie und unser Sohn Max werden sich freuen.“ Hedwig wusste von dieser Verbindung durch ihre Schwester, Sophies Mutter.
Adolf Markus nahm seine Nichte in die Arme und schüttelte deren Verlobten die Hand. „Willkommen, ihr beiden. Ihr kommt gerade richtig. Heute Abend veranstalten wir unser Sommerfest des Jahres 1925. Da wird was los sein. Viele Freunde und Geschäftspartner haben sich angekündigt. Sophie, ich hörte, dass du dich über die getäfelte Bibliothek lustig gemacht hast.“ Die Nichte bekam einen roten Kopf und wollte sich entschuldigen.
„Nichts da. Du hast recht. Diese dunkle Täfelung ist nicht mehr zeitgemäß. Und ich gebe aber auch deinem Mann recht, es hat immer noch den Schein von Seriosität. Der Vorbesitzer des Hauses hat diesen Raum eingerichtet, und ich wollte es nicht ändern.“
Das gesunde Porter
Adolf Markus henkelte Karl Frenzel ein und ging mit ihm zu der Vitrine, die schon zuvor die Aufmerksamkeit des Gastes bekam.
„Was Sie hier sehen, lieber Karl, sind die Anfänge unseres Instituts. Der Gründer Erwin Kayser, der Chemiker war, machte sich in den frühen Achtzigern selbständig. Und wie das so ist mit der Selbständigkeit – das bedeutet zunächst: selbst und ständig. Arbeiten rund um die Uhr und jeden Tag. Seine ersten Auftraggeber waren Brauereien. Für sie erstellte er Gutachten. Hier sehen Sie einige Beispiele. Das hier ist ein Gutachten vom 19. Oktober 1886 für das Bier ‚Deutsches Porter‘ aus der Brauerei Heim in Dresden-Plauen2.
Dieser Brauerei bescheinigte er neben einer genauen chemischen Zusammensetzung, dass dieses Porter qualitativ besser und bekömmlicher sei als vergleichbare Biere anderer Brauereien. Hier steht, ‚dass das Bier auf einen gesund verlaufenden Gärungsprozess‘ schließen lässt und dass es ‚ein überaus nahrhaftes, stärkendes Gesundheits- und Genussmittel‘ sei, ‚welches auch Nichtleidenden ein angenehmes Getränk sein wird.‘ Da sage mal jemand noch was gegen Bier“, lachte Adolf Markus.
„Übrigens wurden in dem Bier auch keine Konservierungsstoffe nachgewiesen, und so bewarb dann die Brauerei das Bier als wirksamstes Stärkungsmittel gegen Magenleiden, Blutarmut und für Rekonvaleszenz. Aber auch den Gesunden wurde es wegen seiner Güte, Reinheit und seines Wohlgeschmacks sehr empfohlen. Hier ist ein weiteres Gutachten für ein helles Bier, dem Klosterbier3 aus der Brauerei in Münchengrätz4 bei Jungbunzlau in Böhmen. Dem Umsatz der Brauereien haben die Gutachten des Herrn Dr. Kayser sehr gut getan. Und natürlich auch seinem Labor. Das sprach sich rum, und so stellte er für viele andere Brauereien in Deutschland und Europa diverse Bescheinigungen aus. Unser Institut wurde bekannt und prosperierte. Später kamen dann chemische Gutachten für die Justiz und staatliche Ämter hinzu. Ich habe dann das Institut 1919 übernommen. In welchem Beruf sind Sie tätig, lieber Karl? Ich hörte, dass Sie aus Leipzig stammen?“
„Stimmt“, lächelte Karl. „Ich bin in der Maschinenfabrik von Charlottes Vater, Arthur Dietzold, als Prokurist tätig. Seit 1905 fertigen wir Nägel, Schrauben, Drähte und dergleichen. Im Moment laufen die Geschäfte ganz gut.“
Unterhaltung im Garten
Also soll er mal das Unternehmen übernehmen, und Lotte ist die Mitgift, dachte sich Adolf. Hut ab vor dem Weitblick seines Schwagers. Dann führte er Karl zu den anderen in den Garten. Dort war unter den alten Bäumen bereits eine Kaffeetafel gedeckt. Inzwischen trafen auch Hedwigs und Adolfs Kinder ein, die mit Neugier ihren künftigen Cousin begutachteten. Der Hausdiener Josef, seit fast 30 Jahren für die Familie tätig, servierte frisch gebackenen Gugelhupf und duftenden Kaffee. Aus den offenen Fenstern des Seitengebäudes ertönte Klaviermusik.
„Oh, habt ihr auf die Schnelle einen Pianisten bestellt?“, fragte Lotte erstaunt. Hedwig lachte. „Nein. Der war schon da. Es ist der ehrenwerte Pianist Max Rentsch. Er spielt in der Staatskapelle an der Semperoper und wohnt hier im Seitengebäude. Er war gern bereit, für heute Nachmittag ein kleines Konzert mit Werken von Mozart und Schubert zu geben. Passt doch gut zu diesem Augustnachmittag.“ Dem lauschten alle entspannt.
Anmerkungen des Autors
1 Das Chemische Laboratorium Dr. Erwin Kayser wurde von selbigen in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in der Dresdner Neustadt gegründet. Entsprechend dem Adressbuch der Stadt Dresden wurde der Chemiker Dr. Adolf Markus neuer Inhaber und siedelte das Institut in seinem Wohnhaus auf der Glacisstraße 9 an. Er selbst wohnte seit 1913 dort. 1928 starb Adolf Markus. Seine Witwe, Hedwig Markus, wohnte bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges dort. Auch das Institut ist im Adressbuch noch bis 1944 verzeichnet. Dann verlieren sich die Spuren.
2 komplette Anzeige von 1886 in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek als PDF.
3 Dresdner Nachrichten vom 4. Juni 1885
4 heute Mnichovo Hradiště bei Mladá Boleslav in Tschechien
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.