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Heiligabend im Treppenhaus

Gegen 8 Uhr abends am Heiligen Abend 1923 öffnete Hedwig Roth ihre Wohnungstür, stellte ein Tischchen in den Hausflur und darauf ein Grammophon. Dann knipste sie das Licht im Treppenhaus an, legte eine Schellackplatte mit Weihnachtsliedern auf. „Süßer die Glocken nie klingen“ und „Stille Nacht“ strömten durch das Hinterhaus der Oppellstraße 281 im Hechtviertel der Leipziger Vorstadt. Alle Türen öffneten sich und heraus kamen die Menschen, die ansonsten dieses, wie auch das letzte Weihnachten fürchteten. Ein Weihnachten der Not, des Elends und der Einsamkeit. Die Väter und Ehemänner von fünf der zehn Familien waren arbeitslos.

Oppellstraße um 1910 - zeitgenössische Postkarte, Ausschnitt.
Oppellstraße um 1910 – zeitgenössische Postkarte, Ausschnitt.

Die Not als Nachwehen der großen Inflation

Tags zuvor hatte die St.-Pauli-Gemeinde die Ärmsten der Armen in den Gemeindesaal zu Kaffee und Stollen geladen, spendiert von den Geschäftsleuten des Viertels. Dazu erhielt jede Familie ein Paket mit Wurst, Gebäck und Brot. Die Kindern bekamen Spielzeug.3 Aus dem Hinterhaus der Oppellstraße 28 war der arbeitslose Kutscher Arthur Tappert, der Frau und drei Kinder durch diese Zeiten bringen musste, sowie der Kriegsinvalide Ernst Rüdiger dabei. Auch bei den anderen saß das Geld sehr knapp. Der als ungerecht empfundene Umtauschsatz von der milliardenschweren Papiermark zur neuen Rentenmark sowie zur Goldmark war für die Unterschichten wie eine weitere Enteignung.3

Der Hauseigentümer, Kaufmann Franz Georg Mitreiter, der in der Pirnaischen Vorstadt auf der anderen Elbseite wohnte, spendierte einen Weihnachtsbaum, dessen Kerzen gerade von Emma Junghans, der Wirtin des „Restaurant zur Kanone“ aus dem Vorderhaus entzündet wurden. Ahhs und Ohhs aus den Mündern der Kinder und deren Leuchten in den Augen waren ein großes Dankeschön. Auch die Männer und Frauen des Hauses beglückte die Wirtin, die Herren mit einer Runde Korn und die Damen mit ihrem selbstgemachten Eierlikör.

Dresdner Neueste Nachrichten vom 25. Dezember 1923
Dresdner Neueste Nachrichten vom 25. Dezember 1923

Trotz aller Armut wurde gefeiert

Dann holte jeder, was er irgendwie hergeben konnte und wollte. Luisa, die Frau des Zimmermanns Hermann Henschel und Nachbarin der Roth steuerte selbstgebackene Plätzchen und einen Krug Punsch bei. Emil Rose aus der zweiten Etage schleppte einen Kasten Bier heran, der freudig begrüßt wurde. Erna Poppe aus der Dritten brachte eine Schüssel mit Lebkuchenherzen aus Pulsnitz, auf die sich sofort die Kinder stürzten. Diese Lebkuchen bekam sie günstig, da ihre Schwester dort in einer diesbezüglichen Bäckerei arbeitete.

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Dann wechselte Hedwig Roth die Stimmung von Weihnachten zu einem Tanzvergnügen. Aus dem Grammophon erschallten jetzt „Wir versaufen unsrer Oma ihr klein Häuschen“, „Wer hat den Käse zum Bahnhof gerollt?“ und „Du bist als Kind zu heiß gebadet worden“.4 Schnell fanden sich die Paare zueinander. Die Kinder hopsten dazu auf den jeweiligen Etagen.

Nur Ernst Rüdiger aus der Zweiten und seine Nachbarin Anna Sachse beteiligten sich nicht an den Vergnügungen. Ernst, ein Versehrter aus dem Weltkrieg, schaffte es nur mit seinen Krücken vor die Tür und die alte Anna, die ihren Mann erst vor drei Tagen verlor, hatte mit Spaß und Freude nichts am Hut. Frau Henschler ging in die zweite Etage hoch und brachte Ernst Rüdiger eine Tasse heißen Punsch, nachdem sie einen Stuhl aus dessen Wohnung geholt hatte. Gern hätte sie der Anna Sachse ebenfalls dieses belebenden Getränk spendiert, aber Anne öffnete die Tür nicht.

Ein schöner Abend, wenn auch nicht ganz heilig

Als Hedwig die Platte mit „Ausgerechnet Bananen“ auflegte, war niemand mehr zu halten. Selbst der kriegsversehrte Ernst Rüdiger wippte auf seinem Stuhl. Dem rhythmischen Foxtrott des Amerikaners Frank Silver gab der Österreicher Fritz Löhner, genannt Breda, 1923 einen deutschen Text und machte ihn hierzulande zu einem Hit. In den Stummfilmkinos brillierte dazu Josephine Baker im Bananenröckchen.5

Restaurant "Zur Kanone", Oppelstraße 28, zeitgenössische Postkarte
Restaurant „Zur Kanone“, Oppelstraße 28, zeitgenössische Postkarte

Jeder nach seiner Fasson

Natürlich war allen im Hause bewusst, dass sich die lebenslustige Hedwig Roth von ihrer Hände Arbeit als Wäscherin kein so teures Grammophon mit dieser Plattensammlung leisten konnte. Zudem sprach der Chick ihrer kleinen Wohnung in der ersten Etage Bände. Und zudem war im ganzen Haus bekannt, dass sie des Öfteren wechselnde Herrenbesuche hatte. Aber es störte sich keiner daran. In diesen schweren Zeiten musste jeder sehen, wie er durchkam. Zudem war Hedwig freundlich und hilfsbereit.

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Und so endete ein Weihnachtsabend in glücklicher Zufriedenheit. Zumindest in diesen Stunden und mit der Hoffnung auf Besserung im Jahr 1924. Clemens Poppe mit Gattin aus der Dritten und Familie Arnold machten sich auf zur Mitternachtsmette in die St-Pauli-Kirche. Max Friedrich, Emil Rose und Hermann Henschel gingen noch in die „Kanone“ im Vorderhaus auf einen Absacker oder zwei, vielleicht auch drei…

Anmerkungen des Autors

1 heute die Rudolf-Leonhard-Straße
2 Dresdner Neueste Nachrichten vom 25. Dezember 1923
3 Dresdner Nachrichten vom 23. Dezember 1923
4 Musik der 1920er Jahre, siehe Wikipedia
5 Showgirl und Sängerin, mehr zu Josephine Baker in der Wikipedia.


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.