Ende November konnte man im „Drinnen & Draußen“ Neustädter Kurzgeschichten lauschen und für seinen Favoriten abstimmen.
Dieser Leseabend war Höhepunkt des „Neustädter Kiez-Kurzgeschichten-Wettbewerbs“ und wurde von Paula Peterssen musikalisch begleitet. Vorgelesen wurden die Geschichten von acht Finalist*innen, deren Texte durch Enna Miau und Anton Launer aus den Einsendungen ausgewählt wurden. Insgesamt hatten sich 25 Autorinnen und Autoren beteiligt. Wer es letztlich auf das Siegertreppchen schaffte, entschied das Publikum per Live-Abstimmung. Durch einen Stimmengleichstand teilen sich nun zwei Autorinnen den dritten Platz. Daher präsentieren wir in loser Folge nun vier Kiez-Kurzgeschichten.

Leska Feld „Der Geist der Neustadt“
Als ich erwache, ist es im Keller noch dämmrig. Ich spähe über den Rand meiner Schlafkiste mit der Lappensammlung hinweg aus dem kleinen Souterrainfenster. Ein Paar Beine in Jeans zieht mit einem leise quietschenden Zeitungswägelchen vorbei. Dann wieder: Stille. Durch das Fenster dringt der Geruch von feuchtem Laub herein und mischt sich unter den Hauch von Kettenöl, der in der Luft hängt. Herrlich. Ich schwebe hinaus. Die Straße verharrt in vollkommener morgendlicher Ruhe wie eine Theaterkulisse. Ich beschließe, auf dem Spielplatz nachzusehen, ob Emma schon da ist.
Am Eingang bei der Schaukel rennt eine kleine Gestalt im Hoodie fast durch mich hindurch und die Talstraße herunter. Emma finde ich schluchzend hinten am Zaun bei den Büschen, neben sich die kleine blaue Gießkanne, mit der sie immer das Moosfeld mit den Schnecken wässert. Dann sehe ich das Massaker. Mehrere Schnecken liegen zerquetscht, mit zerbrochenen Häusern am Boden. Nur eine kleinfingernagelgroße Jungschnecke bewegt sich noch über das Moos. Emma, die spürt, dass ich bei ihr bin, lässt die Schnecke auf ihre Fingerspitze kriechen und hält mir die Überlebende anklagend entgegen. „Das Mädchen hat die totgemacht. Mit Absicht!“ Ich stelle mir vor, dass wir das Mädchen suchen, und tatsächlich steht Emma nun auf und läuft mit mir zum Ausgang.
Im Haus gegenüber lehnt Frau Rabuschke schon auf ihr Kissen gestützt am Fenster. „Frau Rabuschke, hast du das Mädchen gesehen?“ fragt Emma. „Da kam ein Junge vorbei gerannt, mit einer Jeanshose und Turnschuhen, hatte eine Mütze auf. Der hat vorher schon immer gegen die Schaukel getreten. So ein Bengel“ schimpft Frau Rabuschke. Ich stöhne innerlich über diese TäterInnenbeschreibung, aber Frau Rabuschke ist Jahrgang 37, in ihrer Welt spielen Sneakermodelle oder Kleidungsstücke wie Kapuzenpullis keine Rolle. „Meine Augen sind auch nicht mehr die besten. Was ist denn passiert?“ „Meine Schnecken sind tot“ ruft Emma noch im Loslaufen, Weiteres muss warten.
Auf gut Glück rennen wir die Martin-Luther-Straße herunter und sehen nun tatsächlich das Persönchen auf die große Steinkugel im Brunnen eintreten. Ich schwebe zu ihr und versuche, sie in meine Gedanken einzuhüllen. Aber Wut und Verzweiflung lodern heftig und es dauert eine ganze Weile, bis das Mädchen erschöpft ist und nun ebenfalls weint. Und die Füße dürften ihr auch weh tun… Zum Glück kommen nun schnelle Schritte herbeigelaufen. „Da bist du ja. Endlich hab ich dich gefunden. Kommst du zu mir?“„Papa!“ Das Mädchen fliegt in seine Arme. „Meine Freundin ist gestern bei mir eingezogen. Das ist schwer für Emma.“ murmelt der Mann, der wohl meinen fragenden Blick spürt. „Emma hat die Schnecken tot gemacht.“ „Ich heiße auch Emma“ fügt die kleinere Emma noch hinzu, weil sich der Satz sonst komisch anfühlt. „Ach so? Ich bin Jan.“
Ich beschließe, dass ich von all den Gefühlen und Gedanken eine Pause brauche und diese drei hier jetzt ohne mich zurechtkommen. Von dem höchsten Gesims des Kirchturms überblicke ich die Neustadt, in deren Straßen, Höfen, Winkeln, Plätzen und Gemütern ich unterwegs bin. Über mir kreisen die Turmfalken. Unter mir biegt ein winziger Jan mit einer noch winzigeren Emma an jeder Hand wieder in die Martin-Luther-Straße ein. Später werde ich sehen, wie sie die Schnecken begraben. Und unter einem Stück Moos doch noch unversehrt die zwei kleinsten Schnecken finden. Ich drehe weiter meine Runden und gehe meinem Job nach. Lenke die Aufmerksamkeit eines über die vielen Schmierereien entsetzten schwäbischen Pärchens auf die wundervollen Kunstwerke an den Wänden, helfe einem gebeugten Alten, sich über die Wegwarte zu freuen, die neben seinen Füßen aus dem Pflaster sprießt und schaffe es sogar, dass ein Radfahrer, der von links kommt, und eine SUV- Fahrerin, die nicht aufgepasst hat, die Verwünschungen, die ihnen auf der Zunge liegen, herunterschlucken und sich immerhin mit einem bedauernden Schulterzucken trennen.
Schließlich werde ich müde. Taggespenster brauchen viel Schlaf. Aber wenn das nächste Mal jemand – oder gar du selbst – einem anderen ganz ohne Grund einfach zulächelt, ist es entweder ein besonders netter Mensch, oder der Geist der Neustadt ist gerade in der Nähe.
Die nächste Kiez-Kurzgeschichte folgt in Kürze!

















