„Sie kommt“, rief Kellnerlehrling Leo in die Gaststube des Narrenhäusel, nachdem er eine Weile den Gehweg zur Augustusbrücke beobachtet hatte. Die Gespräche der Gäste im Raum erloschen und alle schauten gespannt zur Tür. Vor allem deshalb, weil man neugierig auf das Äußere von Adele Lampel, der Diva vom Alberttheater, war und welchen aktuellen Kleidungsstil Adele in die Dresdner Gesellschaft einbrachte. Denn das war einer der Gründe, warum an den Kränzchennachmittagen das Haus voll besetzt war. Das freute den Wirt, aber auch Adele, die die Aufmerksamkeit auf dem imaginären Laufsteg des Restaurants genoss. Inzwischen hatte es sich eingebürgert, dass sie das Narrenhäusel als Letzte betrat. Ein Star erscheint auf der Bühne stets zuletzt, war ihre Devise.

Die Tür ging auf und die Nachmittagssonne an diesem wunderbaren milden Altweibersommertag Mitte Oktober 1925 beschien Adele von hinten mit einem goldenen Heiligenschein, was Laute des Entzückens und offene Münder des Erstaunens bei den Gästen hervorrief.
Als das vergeistigte Wesen aus der Sonnenkorona trat, hob das Publikum zu brachialem Beifall an. Adele hatte eine weiße Bubikopf-Perücke auf, die mit Pfauenfedern in einem Silberreif geschmückt war. Und der Hänger unter ihrem Mantel endete weit oberhalb ihrer Knie. Selbst Lehrling Leo blieb der Mund offen, als Adele ihm gegenüber trat.
„Mein Süßer“, flüsterte sie und strich dabei dem Leo sanft über seinen Kopf. „Vergiss deine Pflichten nicht“, und ließ den Mantel ganz langsam herabgleiten. Hätte ihm Kellner Waldi keinen Knuff an den Hinterkopf gegeben, wäre das Kleidungsstück zu Boden gefallen. Im letzten Moment fing Leo es auf.
Der neuste Herbst- und Winterlook
Adeles Freundinnen am hintersten Tisch des Gastraumes starrten sie wie ein Wesen von einem anderen Stern an. Die lebensfrohe Erna Lempke, ihres Zeichens Schneidermeisterin von der Königstraße, fand als erste ihre Sprache wieder.
„Mein Gott, Adele, sowas habe ich noch nie gesehen. Du siehst umwerfend aus.“ Martha Kruska und Erna Schwuppke nickten zustimmend.

„Herr Franz, meine Freundinnen und ich haben nichts zu trinken. Ist dieses Haus schon so weit runter gekommen, dass man seine Gäste verdursten lässt?“, rief Adele dem immer noch mit offenem Mund an der Theke stehenden Oberkellner zu. „Eine Runde Sekt, wenn ich bitten darf“, setzte sie im scharfen Ton hinzu. Die Starrheit des Personals löste ich augenblicklich in geschäftliches Treiben auf.
„Meine Lieben, ich grüße euch. Da staunt ihr, was?“ Inzwischen hatte jede von ihnen ihr Glas des Blubberweins vor sich. „Danke, liebste Frieda für deine anerkennenden Worte. Das auf meinem Kopf ist der neueste Schrei der Herbst- und Wintersaison. Dieser wurde vor einem Monat im Ausstellungspalast am Stübelplatz vorgestellt1 und ich sagte mir, dass ich diesen Bubikopf euch als erste in der Stadt, als Premiere gewissermaßen, zeigen möchte. Und, wie findet ihr ihn?“ und drehte dabei der Kopf hin und her.

Weiße Perücke
„Naja,“ meinte Martha mit skeptischem Blick. „Weiße Perücke, nee. Das macht dich doch älter.“ Adele bekam fast eine Schnappatmung.
„Quatsch,“ rief Erna fast zornig dazwischen. „Du hast von Mode keine Ahnung. Die hast du noch nie gehabt. Du musst das Gesamtpaket an Adele sehen. Das wirkt nicht alt, sondern sehr edel.“
Adele beruhigte sich schnell und ließ sich, trotz der sauertöpfischen Bemerkung Marthas, nicht aus dem Konzept bringen. Sie erklärte, dass die weiße Perücke aus Angora Haar mit verdünntem Büffelhaar verwirkt sei und nur ganze 85 Gramm wöge. „Aber abnehmen tue ich sie jetzt nicht. Dann würde mein Kopf wie ein aufgerissenes Sofakissen aussehen. Das kann ich mir, euch und den Gästen hier im Narrenhäusel nicht zumuten“, lachte sie und bestellte noch eine Runde Sekt.
Dann brachte Kellner Ewald Strecke, genannt Waldi, die obligatorische Eierschecke mit dem Kaffee. Martha murmelte nur, dass es dafür endlich Zeit sei. Sonst sei sie in kürzester Zeit betrunken. Aber Martha, wäre nicht Martha, wenn sie an Adeles Kleid nichts zu bemängeln hätte.
Schamlose Amerikanerinnen
„Dein herbstlich blättriges Seidenkleid sieht richtig gut aus, liebste Freundin.“ Alle am Tisch stimmen dem zu, blickten Martha aber misstrauisch an. Mit Recht. Aus der Hüfte schoss sie sogleich ihre moralische Bombe ab. „Aber das Knie ist bei dir vollkommen frei zu sehen. Ich meine, es ist nackt. Was ist das für ein Vorbild für unserer jungen Mädchen. Beim Sitzen auf einer Parkbank kann man dir bis zum oberen Ende beider Beine gucken. Das ist unzüchtig und verwerflich. Du Ferkel.“
Adele lachte schallend los. „Du bist und bleibst eine vertrocknete alte Betschwester. Ginge es nach dir, müssten wir alle in Sack und Asche gehen. Übrigens … keine schlechte Idee. Überlege ich mir für den Faschingsball.“
Erna, die Hoteliersgattin von der Bautzener Straße hob zu einer Verteidigungsrede für Martha an. „Ich weiß, woher Martha ihre Ansichten hat. Hab ich kürzlich in einer Zeitung gelesen. Dort stand, dass die Amerikanerinnen, wer auch sonst, im letzten August ihre Strümpfe herunter rollten und die Knie nackt präsentierten. Sowohl die jungen als auch die mittelalten Frauen in New York traten scharenweise so auf. Da sah man Strumpfbänder in jeder Farbe. Daran waren sogar kleine Glöckchen aus Gold und Silber angebracht, las man in der Zeitung.“2

„Genau das meine ich“, rief Martha dazwischen. „Das ist schamlos. Das muss wohl gebimmelt haben, als würde Schar von Huren ihre Freier rufen. Ich hoffe nur, liebe Adele, dass du so ein Gebimmel nicht trägst.“
„Was denkst du dir nur, Martha. Der Unterschied ist, ich gehe mit Stil und eine Hure sucht einen Stiel.“ Versöhnendes Lachen am Tisch und im ganzen Lokal.
Verrückter Engländer
„Übrigens sind nicht nur die Amerikanerinnen irgendwie durchgedreht, auch die Engländer“, meinte Frieda.
„Jeder von diesen Amis und Tommys haben doch dies und jenes an der Waffel“, bemerkte Adele. „Ich kenne so einige. Aber was hat dein Engländer angestellt?“
„Ist zwar nicht mein Engländer, aber kurios ist die Geschichte dennoch. In einer Zeitung3 habe ich gelesen, dass letztens einer aus den höheren britischen Adelskreisen mit dem Schlafwagenzug von Norwegens Hauptstadt nach Norden fuhr. Am nächsten Morgen bemerkte ein Bahnwärter an der Strecke, dass sich auf dem Dach eines Wagons ein Mann befand. Er war … splitternackt. Mit einer Hand hielt er sich am Lüftungsrohr der Zugtoilette fest und wippte mit seinem Hintern hin und her. Zudem goss es in Strömen.“
Martha hielt sich die Augen zu, wie um sich vor Bildern in ihren Kopf zu schützen und einer Ohnmacht vorzubeugen. Erna grinste und Adele lachte laut auf.
„Sofort informierte der Bahnwärter die nächste Station“, fuhr Frieda fort.
Die Freundinnen warteten erregt auf den weiteren Verlauf der Geschichte. Das Kopfkino wollte gefüttert werden.
„Dort stoppte der Zug und der Stationsvorsteher durchsuchte alle Wagons. In einem Schlafwagenabteil fand er den Nackttänzer vom Dach. Der saß in einem Sessel und hatte immer noch nichts an, kämmte sich seelenruhig die Haare und trällerte ein Liedchen. Erbost sprach ihn der Vorsteher an, was er sich bei seiner Aktion auf dem Dach gedacht habe und ob er geistig einen an der Waffel hätte. Dieser grinste nur und meinte, dass er jeden Morgen nach dem Schlafe ein Bad nehme und dass es in diesem Zug am nötigen Komfort diesbezüglich mangele. So halfen ihm Gott und die Natur und ließen es regnen. Und diese Dusche nutzte er für seine morgendliche Hygiene.“
„Wieder so eine schamlose Sache“, rief Martha empört. „Wenn das die Kinder und ehrbaren Frauen in Norwegen gesehen hätten. Furchtbar.“
„Ach Martha“, beruhigte Adele ihre Nachbarin und tätschelte ihre linke Hand. „Da wo dieser Zug in Norwegen langfährt, da wohnen doch kaum Leute. Ich hätte schon gern hingeschaut. Der Engländer hätte mir gefallen.“
Martha winkte ab, um den Streit nicht ausarten zu lassen und Frieda grinste. „Wer den Engländer gesehen haben könnte, wären nur die dort lebenden Bären und Wölfe. Und die hätten sich bloß gewundert, warum dieses komische Wesen auf dem dahinfliegenden dampfenden Ungeheuer kein Fell hatte. Das sei wohl durch die Geschwindigkeit davongeflogen.“
Das gesamte Lokal brach in Gelächter aus und zollte Adele Beifall. Kellner Waldi brachte eine weitere Runde Sekt und der Nachmittag verlief in fröhlicher Geselligkeit zur vollsten Zufriedenheit von Wirt und Gästen.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 19. September 1925
2 Dresdner Nachrichten vom 6. Oktober 1925
3 Dresdner Nachrichten vom 6. Oktober 1925
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.















