Als Alltagsbegleiterin merkte Theresa Ellinger, dass Kolleg*innen alten Menschen nicht immer auf Augenhöhe begegnen. Sie kam zu der Überzeugung, dass das auch anders geht. Deshalb gründete sie Anfang 2024 ihre eigene Firma, um Studierende zu schulen und sie mit alten Menschen zusammenzubringen. Milan Binder aus der Dresdner Neustadt ist einer der ersten, die diese Schulung durchlaufen haben.

Für Milan Binder beginnt diese Geschichte im Alaunpark. Durch den lief er, versunken musikhörend, als ein Abreißzettel der Firma Animando seine Aufmerksamkeit erregte. Das gemeinnützige Sozialunternehmen schilderte darauf, wie es sich eine sinnvolle Alltagsbegleitung von Senior*innen vorstellt, nämlich als gegenseitigen Austausch, von dem beide Seiten gleichermaßen profitieren.
Dieser Ansatz überzeugte Milan Binder, deshalb trat er mit Animando in Kontakt. Man glaubt ihm sofort, wenn er sagt: „Ich bin einfach ein sehr offener Mensch.“ Überhaupt macht er aus seiner Motivation keine große Sache. Damit passt er perfekt in die Zielgruppe der Firmengründerin Theresa Ellinger. Denn Idealismus und soziale Aufopferung stehen nicht im Vordergrund. Freude und Neugier am gegenseitigen Austausch reichen völlig aus.
Offenheit und Neugier sind Motivation genug
Die Studierenden, die sich bei Theresa Ellinger melden, tun das nicht zuletzt für sich selber. Viele vermissen ihre Großeltern, weil sie fern der Heimat studieren, andere möchten ihre sozialen Kompetenzen stärken. Genau diese „intrinsische Motivation“, wie es Theresa Ellinger nennt, möchte sie mit ihrer Firma bei den Studierenden ansprechen.
Milan Binder zum Beispiel ist sehr an Geschichte interessiert, besonders an der ostdeutschen, denn die wurde während seiner Schulzeit nicht so stark thematisiert. „Die meisten Freunde, die ich in der Neustadt habe, sind genau wie ich zugezogen.“ Von älteren Menschen könne er hingegen aus erster Hand erfahren, wie es sich anfühlte, hier zu leben.
Sein Opa starb, noch bevor Milan Binder ein Jahr alt war. Der Enkel hätte gerne mehr erfahren. Etwa wie es war, als der Großvater während des Zweiten Weltkrieges als Jugendlicher in die Armee eingezogen wurde. Seine Oma, die kürzlich verstorben ist, hat hingegen nie sehr viel berichtet, auch wenn er wissbegierig nachfragte. Man lerne in der Schule zwar Geschichte, sagt Milan Binder, „Geschichte persönlich erzählt zu bekommen, ist aber etwas völlig Anderes“.

Wenn Dresden, dann Neustadt
Es fällt nicht leicht, Milan Binder eindeutig zu verorten: Er stammt aus der Nähe von Freiburg, wohnt in Dresden und studiert digitales Marketing an der Hochschule Worms als Online-Studiengang. Seine Freundin war ein Grund, nach Dresden zu ziehen. Ein weiterer das Interesse am exotischen Osten. Denn in seiner Heimat sei dieser Teil der Republik weitgehend unbekannt, die Sicht auf Sachsen oft klischeebeladen.
Die Wahl eines Stadtteils fiel Milan Binder leicht, als er im Oktober 2024 nach Dresden zog: „Die Neustadt war für mich die einzige Option“, erinnert er sich. Ihm sei klar gewesen, „wenn ich hierherziehe, dann in die Neustadt“.
Schulungen mit viel Fachwissen und noch mehr Praxis
Formal handelt es sich bei dem Programm, das Animando vermittelt, um ein ‚Angebot zur Unterstützung im Alltag‘. Dieses wird vom kommunalen Sozialverband Sachsen anerkannt und über die Pflegekassen finanziert. Damit Ehrenamtliche diese Tätigkeit ausüben dürfen, müssen sie eine Basisschulung nachweisen. Milan Binder nahm bei Animando an der ersten Schulung teil, die die junge Firma überhaupt anbot. Zukünftig sollen Studierende einmal pro Semester die Möglichkeit dazu bekommen.

Für die fachlichen Inhalte der Schulung suchte sich Theresa Ellinger professionelle Unterstützung und fand diese in Person von Stefani Nemuth. Seit vielen Jahren arbeitet diese als Krankenschwester und Pflegeexpertin für Menschen mit Demenz.
Die inhaltlichen Vorgaben vom kommunalen Sozialverband sind nach Stefani Nemuths Einschätzung weitreichend: „Neben Symptomen und Erste-Hilfe-Maßnahmen geht es sogar um Medikamente und Therapieansätze.“ Umso wichtiger ist beiden, dass die Studierenden neben der Theorie am eigenen Leib erfahren können, was es bedeutet, alt zu sein.
Konfrontiert mit der eigenen Zukunft
Ein wesentlicher Bestandteil der Schulung ist deshalb der Altersanzug. „Mit ihm können die Studierenden empathisch nachvollziehen, wie sich Einschränkungen im Alltag anfühlen“, erklärt Theresa Ellinger. Gewichte von 20 Kilogramm simulieren den Verlust an Muskelkraft, die Brille eine Linsentrübung. In der Montur hören und fühlen die Studierenden schlechter, die Gelenke werden steifer.
Das Handy bedienen, Kleingeld abzählen oder gar die steile Wendeltreppe im Schulungsgebäude hinabsteigen – all das wird mit dem Anzug zur Tortur. Der größte Aha-Effekt für die Studierenden, da ist sich Theresa Ellinger sicher, sei jedoch ihre Verhaltensänderung: „Wer durch den Anzug weniger von seiner Umwelt mitbekommt, fühlt sich isoliert, wird unsicher und zieht sich zurück.“

Das Angebot von Animando trifft auf großes Interesse bei Studierenden unterschiedlichster Fachrichtungen. Das ist ganz im Sinne von Theresa Ellinger. Denn oft kommen Alltagsbegleiter*innen aus Pflegeberufen. „Ich finde es aber toll, wenn das Menschen machen, die eigentlich nichts mit Pflege zu tun haben“, betont Theresa Ellinger und lacht: „Wie ich zum Beispiel!“
Austausch statt Betreuung
Ausgestattet mit intrinsischer Motivation und professioneller Schulung starten die Studierenden in das Programm GENAU. Das steht für GENerationen-AUstausch. Das Wort „Betreuung“ hingegen, spricht Theresa Ellinger nur widerstrebend aus, „denn Betreuung hat nichts mit gleicher Augenhöhe zu tun“.
Das gesellschaftliche Blick auf alte Menschen ist oft von Defiziten geprägt. Die Alltagsbegleitung beschränkt sich zu oft auf Smalltalk über das Wetter und Memory spielen. Dabei hätten die Senior*innen einen reichen Erfahrungsschatz und spannende beruflichen Karrieren. „Natürlich gibt es Menschen, die Bingo lieben“, sagt Theresa Ellinger, „aber manche möchten sich vielleicht lieber geistig austauschen“.
Ein Schlüsselerlebnis hatte sie direkt nach ihrer Ausbildung zur Alltagsbegleiterin. Ausgestattet mit einem Sprichwörterspiel – das war nach Lehrmeinung gut bei Demenz – besuchte sie einen älteren Mann. Dort beobachtete sie, wie eine Kollegin diesen Herrn duzte, streichelte und fütterte. Theresa Ellinger empfand den Umgang als demütigend.
Der ältere Herr war früher Dozent am Uniklinikum Dresden. „Ich sprach ihn mit ‚Herr Professor‘ an und fragte ihn nach seiner Forschung und“, Theresa Ellinger klingt heute noch begeistert: „Es war alles da!“ Der Mann veränderte seine ganze Körperhaltung, erzählte von seiner Forschung und die beiden unterhielten sich über Bertolt Brecht. Das Sprichwörterspiel benötigte sie an diesem Tag nicht.
Ausflüge zum Handball
Der geschichtsinteressierte Milan Binder freut sich auf das erste Treffen mit ’seinem‘ älteren Herrn. „Er ist in Kaliningrad aufgewachsen, kam zum Ende des zweiten Weltkriegs nach Dresden und erlebte hier die Zerstörung der Stadt“, erzählt er. Der Gesprächsstoff wird den beiden so schnell vermutlich nicht ausgehen.
„Zudem sind wir beide sportbegeistert!“ Der ältere Herr hat von seiner Familie eine Dauerkarte für Handballspiele bekommen. Milan Binder wird ihn dabei regelmäßig begleiten. Und vielleicht gehen die beiden auch mal gemeinsam durch den Alaunpark, diesmal nicht in Musik, sondern in Gespräche versunken.
- Weitere Infos und Kontakte animando.org
Was für eine schöne Idee! Als alte Knacker interessieren uns solche Beiträge natürlich. Da Theresa sich ja selbst als Geschäftsführerin bezeichnet, wäre es natürlich nützlich zu wissen, was für Kosten für ihren Service entstehen. Ihre Seite gibt da nix her. Umsonst ist der Tod. Und selbst der kostet das Leben….
@statler & waldorf
Für alte Knacker nicht so schnell zu finden:
https://animando.org/ueber-uns/finanzierung/
Gern geschehen ;-)
Lieber statler & waldorf,
die Schulungen sind für die Studierenden kostenlos, als Ehrenamtliche bekommen sie eine Aufwandsentschädigung. Für die Senior*innen übernimmt die Pflegekasse die Kosten. Das tun sie auch deswegen, weil das Angebot hilft, aktiv, selbstständig und geistig fit zu bleiben. Am Ende profitieren meiner Meinung nach alle Seiten davon.
Die Sache ist ja nun nichts neues. Derartige Angebote gibt es schon länger und auch preiswerter. Bei 35,- € Verrechnungssatz pro Stunde, reicht der dafür vorgesehene Entkastungsbetrag nicht mal für eine Stunde pro Woche. Weil es sich eben um eine Pflegefirma handelt, welche ihre Angestellten ernähren soll. Alternativ gibt es Leute, die gleiche bzw. ähnliche Leistungen nebenberuflich oder ehrenamtlich (mit Aufwandsentschädigung) anbieten. Da gibt es Regelsätze ab 10,-€, das ergibt dann schon mal die dreifache Betreuungszeit. Zur Info schaut man da: https://www.pflegenetz.sachsen.de/pflegedatenbank/
Vielen Dank für Ihre Anmerkung, Herr Rostiger Reiter,
natürlich gibt es viele Angebote für Senior:innen, wie etwa Nachbarschaftshelfer, die Sie vermutlich meinen. Unser Programm richtet sich speziell an Senior:innen mit Pflegebedarf, die geistigen und sozialen Austausch auf Augenhöhe suchen. Wir vermitteln gezielt junge, engagierte Studierende, die sorgfältig ausgewählt und qualifiziert werden.
Unser Ansatz für einen nachhaltigen Beziehungsaufbau:
• Umfassende Schulung: Weit über Nachbarschaftshelferkurse hinaus – mit Fokus auf ein ressourcenorientiertes Altersbild, Selbsterfahrung und Sensibilisierung für Themen wie Demenz.
• Individuelles Matching: Wir lernen die Senior:innen und ihre Lebensgeschichte ausführlich kennen, um passende Begegnungen zu ermöglichen – z. B. tüftelt bei uns ein ehemaliger Maschinenbauprofessor mit einer Architekturstudentin an Physikaufgaben oder zwei Sportfans fiebern gemeinsam bei Spielen mit.
• Fachliche Begleitung: Unsere Studierenden werden intensiv betreut und in eine Gemeinschaft mit regelmäßigem Austausch eingebunden, damit sie langfristig engagiert bleiben.
Zur Finanzierung: Viele unserer Senior:innen haben den von Ihnen erwähnten Entlastungsbetrag angespart und stehen eher vor dem Problem, dass er verfällt. Daneben gibt es auch weitere Optionen: Die meisten nutzen die Verhinderungspflege (ab Juli als „Entlastungsbudget“ zusammen mit der Kurzzeitpflege über 3.500 € p.a.) oder umgewidmete Pflegesachleistungen – das alles bietet viel Spielraum, der oft nicht einmal ausgeschöpft wird.
Qualität braucht Zeit und finanzielle Ressourcen. Letztlich ist unser Angebot für Menschen gedacht, die genau auf unsere Schwerpunkte Wert legen. Als gemeinnützige Organisation fließt jeder Gewinn zurück ins Projekt, damit wir unseren hohen Anspruch auch dauerhaft erfüllen können.
Viele Grüße
Theresa Ellinger