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Im Verein für Anekdoten (Teil 2)

Vereinsvorsitzender Heinrich Mantsch trat vor sein Geschäft für Meißner Porzellan am Neustädter Markt und zog genüsslich an seiner Zigarre. Der Blick ging zum dämmernden Himmel und dieser gefiel ihm gar nicht. Neblig grau von Ost bis West und Süd bis Nord.

Hotel Vier Jahreszeiten - zeitgenössische Postkarte (Ausschnitt)
Hotel Vier Jahreszeiten – zeitgenössische Postkarte (Ausschnitt)

Wie eine Einheitsbrühe aus der Aufwaschschüssel seiner Dienstmagd, gab sich dieser Novembertag des sich langsam seinem zu Ende neigendem Jahr 1913. Neblig grau war seine Stimmung und neblig grau liefen auch die Geschäfte dieses Tages. Sein Gemüt hellte sich auf, als er die in einem warmen Gelb getauchten Fenster gegenüber im Hotel „Vier Jahreszeiten“ erblickte. So werde dieser Tag wohl noch ein gutes Ende nehmen, sagte er sich und überquerte mit einem Lächeln der Vorfreude den Platz.

Am Stammtisch

Am Eingang empfing ihn der Inhaber Oskar Becher. „Typisch. Du hast den kürzesten Weg und brauchst am längsten. Alle anderen sind schon da.“ Heinrich Mantsch winkte ab. Er wollte sich nicht aufregen. Es reichte, dass ihn der Himmel ärgerte. Ihn erwartete ein guter Roter.

Kaum betrat er den Salon wurde er von den anderen Mitgliedern des Vereins für Anekdoten mit lautem Hallo und Zuprosten begrüßt. Da waren der Standesbeamte Alois Neumann, Blattgoldfabrikant Hermann Müller, Instrumentenhändler Carl August Bauer und Bambusmöbelverkäufer Theodor Reimann. Kurz gesagt, hier saß die selbsternannte Hautevolee der Gegend um den Neustädter Markt zusammen.1 Oberkellner Josef stellte mit einem höflichen Diener dem Heinrich Mantsch seinen Roten an seinen Platz und entfernte sich mit dem Mantel des Vorsitzenden. Auch Oskar Becher nahm in der Runde seinen Sitz ein.

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Das Essen des Abends

„Oskar, was bietet uns heute deine Küche?“, rief Alois Neumann, bevor der Vereinsvorsitzende mit einem drögen Bürokratenakt, wie Anwesenheitskontrolle und irgendwelchem politischen Kram die Stimmung trübte. Und Oskar nahm diesen Einwurf dankbar auf.

„Oh, ich habe etwas ganz Besonderes für heute Abend vorbereiten lassen.“ Aller Augen richteten sich auf ihn, auch die von Hermann Mantsch. „Als Vorspeise empfiehlt euch mein Koch eine Rindsbouillon mit feinsten Gemüsestreifen.“ Ein Raunen durchzog den Salon. „Es wird noch besser. Im Hauptgang kredenzt er uns ein Stück aus der Keule von einen frisch im Moritzburger Forst erlegten Hirsch, serviert mit Rotkohl aus Radebeul und fluffigen Kartoffelknödeln nach der Art meiner Großmutter.“ Das Raunen schwoll zu einem Beifall an. „Und zum Nachtisch ein Schälchen Schokoladeneis mit frisch geschlagener Sahne.“ Bravo-Rufe erschollen. Dann klatschte Oskar Becher in die Hände und zwei Kellner kamen mit Tabletts herein. „Das ist ein Amuse-Gueule, ein Überraschungsgruß aus der Küche.“ Die fünf anderen Mitglieder des Verein verdrehten vor Entzücken die Augen und Ahhs und Ohhs erschollen ob des Anblicks dieser Köstlichkeit. Auf einem Porzellanlöffel befand sich ein halbes weich gekochtes Ei, umrandet mit original russischem Kaviar vom Belugastör.

Der Abkürzungswahn

Diesmal verzichtete Heinrich Mantsch zur Freude der Anwesenden auf den bürokratischen Kram. Es waren fürs Protokoll schließlich alle da und das vaterländische Gesülze konnte jeder in der Zeitung nachlesen. So begann man zwischen den einzelnen Gängen mit den Anekdötchen2.

Dresdner Nachrichten vom 2. November 1913
Dresdner Nachrichten vom 2. November 1913

„Ich fange mal an“, meldete sich Hermann Müller und hob den Bierhumpen, der seinen Namen trug. „Wir sind in Dresden wahrlich sehr modern geworden.“ Woran er das merke, fragten alle wie aus einem Mund. „Nun, alle reden nur noch in Abkürzungen.“

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Als er die unverständlichen Blicke seiner Freunde sah, grinste er. „Ihr braucht doch nur in die Vergnügungsanzeigen der Lokalitäten in den Zeitungen schauen. Wir sind schon so modern, dass keine Zeit mehr bleibt, die Lokale beim richtigen Namen zu nennen. Mit dem Zoo fings an, dann kamen die ‚T‘, also die verschiedenen Theater. Und nach und nach haben sich die Tanzlokale dem abkürzenden Verfahren angeschlossen.“ Als Beispiele nannte er das „LB“, das Linckesche Bad oder im Tänzerjargon auch „Linckesches Been“ genannt. Andere gingen zum „F.K.“, was nicht etwa „Feiner Kerl“ bedeutete, sondern schlicht und einfach der „Felsenkeller“ war. „Und mit „KK“ meine man wohl das Kurhaus Klotzsche“, warf Theodor Reimann ein.

Hermann Müller nickte und prostete ihm zu. „Und dein Etablissement, lieber Oskar, nennt sich übrigens in der Kurzform ‚VauJot‘.“ Alles lachte, nur Oskar nicht, denn diese Abkürzung wurde dem ersten Haus am Platze keinesfalls gerecht. Aber er bekam nicht mit, dass der verrückte Alois zu seinem Nachbarn Theodor leise sagte, dass „VauJot“ gleich nach „IdJot“ kam, worauf dieser laut losprustete. Zum Glück trank der keinen Rotwein, sonst hätte die teure Damasttischdecke eine weinbepunktete Musterung und der Oskar die Gesichtsfarbe eines hoch erregten Truthahns bekommen.

Ehe es zu einem handfesten Streit kam, brachten die Kellner die Vorsuppe und deren wohlgefälliger Duft beruhigte die Gemüter.

Neustädter Markt um 1910, zeitgenössische Postkarte
Neustädter Markt um 1910, zeitgenössische Postkarte

Neues aus der Telefonzelle

Nach der gut gemundeten Bouillon nahm Carl August Bauer, seines Zeichens der Instrumentenhändler aus der Hauptstraße 27, gleich neben dem Café Pollender gelegen, das Wort. Als Sektliebhaber hielt er sein Glas mit selbigem Inhalt hoch und prostete allen zu. „Wenn wir heute über Moderne und Neuerrungen sprechen, schlage ich vor, dass wir eine Petition an die Sächsische Postverwaltung richten, damit diese in den Telefonzellen Garderobenhaken anbringen möge.“2

Ungläubige und verständnislose Gesichter ringsherum. Da erklärte er, dass, wenn man zu dieser Jahreszeit mit dem Wintermantel in dieser Zelle stehe und ein längeres Gespräch führen müsse, es dort drinnen zu einer schwülen Atmosphäre kommen würde. Die Scheiben würden so beschlagen, dass nach einer Weile das Wasser an ihnen wie in Sturzbächen herunterlief. Dann fühle es sich da drinnen schlimmer an als in einem Dampfbad. Komme man dann wieder ans Tageslicht, triefe man wie nach einem Vollbad. Deshalb muss man den Mantel ausziehen und deshalb bräuchte es einen Garderobenhaken. Diesem Vorschlag stimmten alle zu. Und herein kam die herrlich duftende Hirschkeule mit Rotkohl und Omas Kartoffelknödel.

Die Türen der Straßenbahnen

„Diese bleiben seit dem 1. November 19131 geschlossen“, rief erregt Theodor Reimann in die Runde, nachdem alle nach dem vortrefflichen Hirschen eine doppelten Kräuter hinter die Krawattenbinde gossen und Alois einen Rülpser nicht unterdrücken konnte. Alle anderen zündeten sich jeweils eine Zigarre an.

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„Was ist denn nun mit den Türen?, fragte Heinrich Mantsch. „Also, die vorderen Türen dürfen während der Fahrt nicht mehr geöffnet werden.“

Hermann Müller fragte den Heinrich, wo denn da nun das Problem sei. „Schau mal, lieber Hermann. Wenn es dir zu frisch wird bei diesem Mistwetter und du in das innere der Bahn willst, hast du ein Problem.“ Hermann verstand immer noch nichts. „Mein lieber Hermann. Stelle dir nur mal vor, du stehst dort drinnen hinter einer Dame. Hm?“ Hermann zuckte mit der Schulter. „Ach Hermann. Diese Dame hat einen dieser jetzt so modernen Hüte auf, wo ein Samt- und Federgesteck das hintere Ende ziert. Und du stehst dort. Und bei jeder Kopfbewegung dieser Dame streicht sie dir mit ihrem Federwisch über das Gesicht.“

Jetzt verstand Hermann und bekam ob der Vorstellung einen heftigen Niesanfall, dessen Beseitigung eines ganzen Taschentuches bedurfte. „Das wäre nicht zum Aushalten“, rief Hermann nach dem Schnäuzen. Alles lachte und genoss den inzwischen servierten eisig-sahnigen Nachtisch. Und der Abend endete bei Bier, Sekt, Rot- und Weißwein sowie weiterer Kräuterschnäpschen in Wohlgefallen und in der Freude auf das nächste Treffen.

Anmerkungen des Autors

1 siehe dazu Neustadt-Geflüster vom 23. Juli 2023, Teil 1 des Artikels „Ein Verein für Anekdoten“
2 Dresdner Nachrichten, Frühausgabe, vom 2. November 1913


Unter der Rubrik “Vor 100 Jahren” veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.