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Julia Hartl - SPD

Ich will mein Geld

Der Frühling des Jahres 1878 zeigte sich an diesem 21. März von seiner sonnigen Seite. Die Natur nutzte jedes Fleckchen Erde, um ihr Füllhorn auszuschütten. Auch Schuhmachermeister Eggradt aus dem Obergraben in der Neustadt wollte sich am frühen Abend nach getaner Arbeit im Restaurant „Stadt Görlitz“ an der Ecke Rähnitzgasse 21 zur Heinrichstraße ein Bierchen unter fröhlichen Menschen gönnen. Dieses altehrwürdige Haus, in dem schon Napoleon I. nach seiner Flucht aus Russland sein müdes Haupt niederlegte, war seit vielen Jahren sein Stammlokal.

Hotel Stadt Görlitz, zeitgenössische Postkarte
Hotel Stadt Görlitz, zeitgenössische Postkarte

Als er, ein Lied vor sich hin pfeifend, die Gaststube betrat, wurde der letzte Ton, nachdem seine Augen über die anwesenden Gäste schweiften, zu einem Rohrkrepierer. An einem der hinteren Tische am Fenster zur Heinrichstraße entdeckte er den Milchhändler Otto Pilz. Mit steigendem Blutdruck und wütendem Gesicht, eilte er, einem Herzkollaps nahe, zu besagtem Tisch.

Der Milchmann wurde blass

„Zum Saufen hast du Geld, du Lump“, blaffte er laut in diese Richtung, so dass es still im Lokal wurde. Alle Blicke richteten sich nun auf den Milchmann, der blass wurde. Doch schnell hatte er sich wieder im Griff.

„Was willst du denn? Ich trinke hier nur mein Feierabendbier. Halte du deine Gusche und trinke auch eins. Ich gebe dir sogar ein Bier mit Kompott aus“, reagierte dieser jovial und grinsend. Doch das machte den Schuster noch wütender.

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„Ich brauche dein Bier nicht. Ich will endlich mein Geld für die Stiefel, die ich dir im Dezember anfertigte. Ganze 48 Mark1 schuldest du mir. Ich habe dir schon mehrfach Briefe mit Mahnungen geschrieben. Aber du hast nie reagiert. Nicht einmal in meinen Laden bist du gekommen. Das ist impertinent.“ Das Lokal erwartete ein großartiges Drama und fast jeder bestellte Nachschub bei den Kellnern, die ein gutes Geschäft witterten.

„Ich habe keine Briefe bekommen, sonst hätte ich doch gezahlt. Mit der Zeit geriet das Ganze in Vergessenheit. Kann doch mal passieren. Entschuldigung August“, erwiderte Otto Pilz ruhig. „Ich komme in den nächsten Tagen vorbei.“

Biertrinker, Gemälde von Honoré Daumier,
Biertrinker, Gemälde von Honoré Daumier,

Gelächter im Lokal

Doch Gläubiger August beruhigte sich nicht und kam zur Freude der Gäste erst richtig in Fahrt.

„In den nächsten Tagen? Du hast sie wohl nicht alle. Ich warte seit Monaten. Wenn du bei mir so lange auf deine Stiefel hättest warten müssen, wie ich auf das Geld, hättest du in diesem Winter barfuß laufen müssen.“2 Gelächter im Lokal und hier und da Beifall. „Denkst du vielleicht, ich finde das Leder in meinen Garten und füttere meine Gesellen mit panierten Schuhsohlen und eingemachten Absatznägeln? Als du die Stiefel abholtest, versprachst du mir umgehende Zahlung. Versprechen nicht eingehalten!“ und zeigte, sich umblickend, auf den Milchhändler. Pilz war sich der Wirkung seiner Worte wohl bewusst und schwieg.

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Dresdner Nachrichten vom 16. April 1878
Dresdner Nachrichten vom 16. April 1878

Der Schuhmacher nutzte eine alte Methode, die die Gildemeister schon im Mittelalter anwandten, um säumige Zahler zur Räson zu bringen. Sie klagten in aller Öffentlichkeit und lautstark ihre Schuldner an, so dass es jeder Nachbar mitbekam. Dann plünderten die Gerichtsvollzieher dessen Wohnhaus und nahmen alles mit, was nach wertvoll aussah, Schmuck, schöne Kleider, Haushaltsgegenstände, Töpfe, Teller und Tassen, Möbel, Nahrungsmittel, wie Weizenmehl, Gepökeltes und Geräuchertes, lebendes Vieh und Transportkarren. Vom tatsächlichen Wert berechneten sie nur etwa ein Drittel. Diese öffentliche Demütigung ertrug kein Schuldner und verließ oft mit seiner Familie und den übrig gebliebenen Sachen in Schimpf und Schande die Stadt.3

„Neben dir sitzt der Bäcker Kern“, nahm Eggradt das Wortgefecht wieder auf. „Ich nehme an, dass du dem sein Brot bezahlt hast. Und da meintest du wohl, dass der Pferdehengst aus der Rähnitzgasse 6 warten kann.“

Lachsalven jagten durch das Lokal. Da es noch nicht handgreiflich wurde und keine Gläser, Stühle und Gäste in Mitleidenschaft gezogen wurden, griff auch der Wirt nicht ein. Schließlich wollte er sich das Geschäft nicht vermasseln.

„Ein Kreuzschocksternhageldonnerwetter soll dir in den Pelz fahren, zu Lump. Du wirst mich noch kennenlernen, wenn ich erstmal richtig wütend werde, wenn du nicht zahlst. Ich gebe dir acht Tage. Dann ist das Geld mit Zinsen bei mir im Laden. Wenn nicht, dann werde ich eine Nachricht in den Dresdner Nachrichten veröffentlichen, dass die ganze Stadt weiß, was für ein Lumisch4 du bist. Wenn du also noch etwas Ehre im Leib hast, dann zahlst du, wie es sich für einen reputierlichen Menschen schickt.“2

Sprachs, drehte sich, von tosendem Beifall begleitet, auf dem Absatz um und verließ das Lokal. Auch der so gemaßregelte Schuldner machte sich, nach Zahlung der Zeche, worauf der Wirt achtete, schnellstens aus dem Staube und ward nie mehr im „Stadt Görlitz“ gesehen.

Anmerkungen des Autors

1 umgerechnet etwa 360 Euro (nach der Umrechnungsliste der Kaufkraftäquivalenten historischen Beträge in deutschen Währungen der Deutschen Bundesbank vom Januar 1922)
2 Leserbrief in den Dresdner Nachrichten vom 16. April 1878
3 Daniel Lord Smail, Households and Debt Collection in Late Medieval Europe, Harvard University Press, 2016
4 Ausdruck für einen frechen Typen; Thomas Nicolei “Sächsisch für Anfänger“, Langenscheidt-Verlag, 2012


Unter der Rubrik “Vor 100 Jahren” veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

3 Kommentare

  1. Danke fuer die nette Anekdote zwischendurch. Nun tut sich bei mir die Frage auf, warum aus dem “Hotel Stadt Goerlitz” das “Hotel Stadt Leipzig” wurde?

    LG Danilo

  2. Nee, das Hotel “Stadt Leipzig”, das aktuell zu den “Heinrichshöfen” umgebaut wird, ist diagonal gegenüber. Das Hotel “Stadt Görlitz” in der Rähnitzgasse 12 ist jetzt ein normals Wohn- und Geschäftshaus.

  3. Das historische Gebäude erwies sich nach der Wende als nicht mehr sanierungsfähig, es ist den Bauleuten buchstäblich unter den Händen weggebröckelt.

Kommentare sind geschlossen.