„Meine Herren, schön, dass ihr da seid. In diesen unruhigen Zeiten müssen wir zusammenhalten. Zusammenhalten gegen die Franzosen und Belgier und deren Besetzung des Ruhrgebietes, Zusammenhalten gegen die knebelnden Gesetze der Reichs- und Landesregierung. Darauf erst einmal ein labendes Prost.“
Anton Weber vom Hotel Vier Jahreszeiten am Neustädter Markt blickte zufrieden in die Runde und hob, wie alle, seinen Bierkrug. An diesem wieder recht milden Januartag 1923 trafen sich einige Gasthaus- und Hotelinhaber, um die prekäre Lage im Gastronomiegewerbe zu besprechen.
Lizenzentzug und Polizeistunde
„Mir reicht´s“, warf Emil Finke von der Radeberger Bierhalle auf der Hauptstraße 11 wütend ein und schlug mit der Faust derart auf den Tisch, dass die Bierkrüge hochsprangen. „In vorauseilendem Gehorsam hat doch der Amtshauptmann8 der Dresdner Neustadt der Polizeibehörde befohlen, ‚mit Strenge gegen Überschreitungen der Polizeistunde und gegen Schlemmereien jeder Art vorzugehen, insbesondere gegen solche Lokale, die im Verdacht als Spielhöllen und Schlemmerstätten stehen.‘“1
Großes Gelächter in der Runde. „Du redest wohl von deiner Kaschemme?“, rief Franz Eulert vom Café Moltke am Aufgang zur Augustusbrücke augenzwinkernd in die Runde. Finke drohte ihm mit der Faust.
„Weißt du Franz, womit sie einen Lizenzentzug begründen? Und zwar damit, dass der Erlaubnisträger, also ich, das Gewerbe zur Förderung der Völlerei, des verbotenen Spiels, der Hehlerei oder Unsittlichkeit missbraucht. Damit, so die Drohung, soll einer großen Zahl von Schankwirtschaften, Branntweinschenken, Likörstuben und Bars, und zwar solchen mit niedrigeren, wie auch solchen mit hohen und höchsten Kreisen ein Ende gemacht werden.“2
„Naja“, entgegnete Franz. „Wenn ich deine Beschreibung nehme, müsste deine Radeberger Bierhalle eine Mischung aus Fressbude, Saufhalle, Spielhölle, Drogenhändlertreff und Puff sein. Vielleicht ist ja was dran.“ Alle, außer Emil, klatschten sich, Tränen lachend, auf die Schenkel.
Jetzt wird es ideologisch
Gastgeber Anton Weber bemühte sich, die Wogen zu glätten und wieder sachlicher werden. Er fasste zusammen, was Regierung und Stadtrat diesbezüglich planten. „In einem Rundschreiben von Reichskanzler Cuno an die Länder wetterte dieser gegen die immer noch verbreitete Schlemmerei, Genusssucht und den Alkoholmissbrauch. Und sogar die Tanzvergnügungen sollen verboten werden. Berlin fordere eine Polizeistunde von 11 Uhr abends. Das ist doch lachhaft. Alles nur wegen der notleidenden Armen und den Franzosen.“3
„Das ist ja wie in Sowjetrussland“, warf Helmut Schulz vom Klosterkeller am Neustädter Markt 6 ein. „Da braucht es gar nicht die Kommunisten in der Regierung, wenn die Sozis und die bürgerlichen Moralapostel deren Programm realisieren.“
Die Wirkung der Suffragetten
„Da passen die Einlassungen der Stadtverordneten Fräulein Ohnesorge von der Deutschen Volkspartei, die einen Antrag gestellt hatte, der Beratungsstelle für Alkoholkranke mehr Geld zu geben. Das mag ja noch gehen. Aber die Kommunistin Frau Böhme plädierte gleich für die Abschaffung der Alkoholwerbung an den Straßenbahnwagen.4 Das wäre für uns geschäftsschädigend“, kam Hermann Mitschke vom Restaurant Braustübl an der Großen Meißner Straße endlich zu Wort. „Und beide Damen kamen sogar damit durch. Die Kerle müssen gepennt haben. Weiber, seit die in der Politik mitmischen dürfen, gibt es nur Chaos.“
„Stimmt“, erwiderte Willi Henze vom Hotel Stadt Wien aus der Klostergasse. „Der Stadtbund der Dresdner Frauenvereine forderte schon vor einem halben Jahr, die Restaurationen früher zu schließen, weil angeblich der späte Ausschank des Alkohols die Volksgesundheit schädige. Und das vor allem deshalb, weil der jetzige Achtstundentag eine Ausdehnung der Gelegenheit des Zechens erübrige. Zudem trüge die späte Polizeistunde wesentlich zur Verwahrlosung unserer sittlichen Zustände bei.5 Weiber, die wollen bloß ihre Männer unter ihre Fittiche halten und kontrollieren. Das haben wir nun davon, weil wir 1918 den Suffragetten und Frauenrechtlern nachgegeben haben, nur um endlich Ruhe vor ihrem Gezeter zu haben.“
Ein breites Grinsen erhellt das Gesicht vom Bierhallen-Finke. „Zufällig habe ich die Zeitung mit dem besagten Artikel hier. Es kommt noch dicker. Hier steht: ‚Wir Frauen protestieren in erster Reihe dagegen, weil das Familienleben außerordentlich durch die herrschende Unsitte des Nachtlebens leidet, weil besonders unsere Jugend sittlich gefährdet wird und weil dieses behördlicherseits geduldete und viel zu wenig eingeschränkte Nachtleben auch die erschreckende Zunahme der Geschlechtskrankheiten in höchstem Maße begünstigt.‘“5
„Da könnten wir gleich unsere Hotelbars schließen, wenn es nach denen ginge. Und mir ist nicht bekannt, dass in unserer Bar ständig dem Amor und der Venus gehuldigt wird. Wo ein Wille ist, ist auch immer ein Busch. Ich kann doch nicht jedes Pärchen durch einen Hotelboy begleiten lassen. Wer weiß, ob die nicht den Jungen gemeinsam vernaschen“, bestätigte Hermann vom Braustübl die Finkeschen Einlassungen. Darauf prosteten sich alle lachend zu.
Zwischen Fordern und Beschwichtigen
Mit der Allerweltsweisheit „nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird“, zog Anton Weber das Wort an sich. „Unser Ministerpräsident von Sachsen, der Herr Bück, hat nach der Tagung des Reichsrates erklärt, dass es für Sachsen keine Herabsetzung der Polizeistunde geben soll. Damit würde die wirtschaftliche Lage der Inhaber des Gastgewerbes, deren Angestellten und der Musiker noch schlechter werden.“ Zustimmende Worte am Tisch. „Trotzdem soll aber jede Überschreitung der Polizeistunde strengstens verfolgt werden, meinte der Ministerpräsident. Wohl um den nervenden Frauenverbänden, auch in seiner Partei, entgegenzukommen, werde der Branntweinausschank an Jugendliche verboten. Auch die Tanzlustbarkeiten werden eingeschränkt. Kostümfeste und Maskenbälle, die angeblich in der Bevölkerung großen Anstoß erregen sollen, werden ganz verboten. Was daran anstößig sein soll, ist mir schleierhaft. Und die Revoluzzer in den linken Parteien werden zudem damit beruhigt, dass die Reichen rücksichtslos zur Tragung der Kosten geschröpft werden sollen.“6
„Schändlich“ erregte sich der Franz vom Café Moltke. „Wenn das der Namensgeber meines Etablissements hören könnte, würde der sich im Grabe umdrehen. Und wie sollen wir bluten? Wegen der rasanten Geldentwertung soll die Einziehung der Vermögenssteuer, der Zwangsanleihe, der Einkommens-, Umsatz- und Körperschaftssteuer sogar vorgezogen werden. Und wenn du deine Steuern stunden lassen willst, musst du dann saftige Zinsen blechen. Wenn das so weiter geht, kann ich mein Café bald schließen. Die merken da oben gar nicht, dass sie eine ganze Branche kaputt machen.“6
Das haben die Ruhrbesetzer nun davon
„Meine vaterländischen Freunde und viele Wirtsleute kaufen keine französischen und belgischen Waren mehr. Viele Hotels und Pensionen beherbergen niemanden mehr aus diesen Ländern. Ich weiß, dass der Mitschke vom Braustübl keine Weine, keinen Käse, keine Schnäpse von dort im Angebot mehr hat. Dass aber die Regierung mir vorschreiben will, nur noch ein Fleischgericht auf der kleinstmöglichen Speisekarte haben zu dürfen, geht mir dann doch zu weit.7
Der Gastgeber Anton Weber schlug vor, eine Petition an den Dachverband der Gastwirte zu senden, damit dieser bei der Landes- und Reichsregierung vorstellig wird, um die härtesten Maßnahmen wenigstens abzumildern. Denn durch bereits abgesagte Bälle und Tanzvergnügen haben wir Hotel- und Gasthausbetreibern sowie die Kaffeehausbesitzern bereits großer Schaden erlitten. Dabei wollte der Gesetzgeber wohl nur die Einrichtungen treffen, die „unnötigen Luxus, Verschwendung von Lebens- und Genussmitteln und Heizmaterial“ tätigen. Und wer soll das kontrollieren? Achselzucken. Der Petition stimmten alle zu.
Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Volkszeitung vom 25. Januar 1923
2 Dresdner Nachrichten vom 20. Januar 1923
3 Dresdner Nachrichten vom 16. Januar 1923
4 Dresdner Nachrichten vom 26. Januar 1923
5 Dresdner Nachrichten von 28. Juli 1922
6 Dresdner Nachrichten vom 23. Januar 1923
7 Dresdner Nachrichten vom 28. Januar 1923
8 Von 1838 bis 1938 waren Amtshauptleute die Vorsteher eines Amtsbezirkes oder Amtshauptmannschaft. Dresden hatte zwei Amtshauptmannschaften. Eine für die Alt- und eine für die Neustadt, die beide auch umliegende Nachbargemeinden beinhalteten. Nach 1938 wurden diese Bezirke deutschlandeinheitlich neu geordnet zu Landkreisen und der Amtshauptmann zum Landrat.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.