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Societaetstheater

Die Welt ist aus den Fugen

Max Winkler schwenkte den Besen auf dem Bürgersteig vor der Tür seines Hauses Hechtstraße 13. Es war der 20. Tag im Januar des Jahres 1923, ein Sonnabend, welcher schon in seinen ersten Stunden zeigte, dass er nicht ohne zu werden schien. In heller Aufregung waren alle Bewohner des Hechtviertels in der Dresdner Neustadt ob der Besetzung des Ruhrgebietes durch französische und belgische Truppen. Jeder hielt die vorangegangenen Drohungen aus Paris für einen großen Bluff. Aber das Erwachen in der Realität war bitter.1 Und jede politische Kraft kochte ihr eigenes Süppchen.

Die Hechtstraße vor rund 100 Jahren, zeitgenössische Postkarte
Die Hechtstraße vor rund 100 Jahren, zeitgenössische Postkarte

Jeder gegen jeden

Als alter Sozi war Max am letzten Sonntag bei der Großkundgebung der nun wiedervereinigten SPD im Zirkus Sarrasani dabei.2 Der Große Krieg war erst fünf Jahre her, die Spanische Grippe steckte noch allen in den Knochen und im Lande bekämpften sich die Anhänger aller Couleur bis aufs Blut. Kommunisten gegen Sozialdemokraten, Bürgerliche gegen das linke Lager und umgekehrt, Linke gegen Deutschnationale und die neuen Hakenkreuzler, letztere gegen Juden und Bolschewiken. Und nun das. Weil die neue deutsche Republik die Reparationen laut Versailler Vertrag nicht mehr zahlte, kassierten mal eben die Franzosen das Ruhrgebiet mit seiner Steinkohle ein und schickten ihre Soldaten als Geldeintreiber. Max wetterte murmelnd vor sich hin.

Einigkeit gegen den alten Erbfeind

„Morgen Max“, rief ihm Paul Michael, der Schankwirt der Kneipe ‚Zur Schmiede‘ zu. „Morgen Paul, was sagst’n Du zu diesen verrückt gewordenen Franzosen? Wird es jetzt wieder Krieg geben?“ Der Schankwirt leerte den Aschenkasten seines Ofens aus der Gaststube in eine Tonne und schwenkte seinen Kopf hin und her. „Möglich oder auch nicht. Jedenfalls hat unser Reichskanzler Cuno aus meiner Sicht richtig gehandelt. In meiner DDP3 sind wir mit euch Sozis in dem Punkt einig. Das dürfen wir den Franzosen nicht durchgehen lassen“, bestätigte Paul die Haltung von Max.

„Witzig finde ich, dass hiesige Fabriken, die einen französischen Markennamen haben, wie diese Cognac-Firma4, gleich Werbeanzeigen inserierten und versicherten, sie seien rein deutsche Unternehmen und hätten mit den Franzmännern nichts am Hut. Ich habe seit dem Krieg auf meiner Speisekarte sowieso keine ‚Soßen und Bouillon‘ mehr, sondern nur noch Tunken und Suppen.“

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Dujardin-Anzeige in der Zeitschrift "Das Leben" von 1923
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Und schon wird gegängelt

Feuerwehroberleutnant a.D. Alfred Mantsch aus der 13 gesellte sich zu ihnen. „Recht so. Bei diesem frostigem Wetter könntest du, lieber Paul, einen Stand mit Glühwein vor deiner Kneipe aufmachen. Kundschaft hättest du hier zur Genüge.“

„Ha, ha“, lachte dieser. „Würde ich gerne, aber es gibt jetzt eine neue Brandweinverordnung5, die den Ausschank erheblich einschränkt. Die Reichsregierung hat den Erlass gegen die Völlerei schon veröffentlicht. Klingt wie eine Predigt unseres Pfarrers aus der St. Pauli Kirche. Wie dem auch sei, die Landesregierung wird wohl bald folgen. Danach könnte ich, wenn ich mich darüber hinwegsetze, meine Kneipenlizenz verlieren. Alles nur wegen der Franzosen.“

Die Armen werden ärmer

Die Haustür der Hechtstraße Nr. 15 öffnete sich und heraustrat Minna Ulbrich mit ihrem siebenjährigen Sohn Alfred. „Guten Morgen die Herren. So möchte ich den Tag auch verbringen. Unsereins muss arbeiten, um jeden Tag was auf den Tisch zu bringen und ihr labert auf dem Gehsteig.“

Die Herren sahen den Schalk um ihre Augen. Minna hatte es nicht leicht. Den kleinen Alfred musste die junge Witwe allein großziehen. Ihr Mann fiel 1916 in Frankreich. Den Vater hatte der Kleine nie kennen gelernt. Minna arbeitete tagsüber als Haushälterin einer reichen Bürgerlichen auf der Königsbrücker und abends kellnerte sie des Öfteren in der ‚Schmiede‘. Ein kleines Zubrot in diesen Zeiten. Dieses brachte ihr auch der eine oder andere ledige Herr ein. Was festes wollte sie aber nicht. Das machte sie umso begehrlicher. Auch dem Wirt der ‚Schmiede‘ war sie nicht gleichgültig.

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„Ich bringe den Kleinen zur Schule, dann gehe ich Einkaufen. Bei dem Verfall des Papiergeldes kann ich nicht bis Nachmittag warten.“ Max Winkler stimmte ihr zu.

Hechtstraße - zeitgenössische Postkarte
Hechtstraße – zeitgenössische Postkarte

„Gestern gabs für einen Eimer mit 11.875 Papiermark einen einzigen Dollar. Heute musste schon 16.650 Mark6 einfüllen. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis du wegen eines Brotes das Geld im Handwagen zum Bäcker fahren musst“, bemerkte lachend der Feuerwehrmann a.D.

Das fand Minna keineswegs spaßig. „Nimm nur mal die Kartoffelpreise. Ich bin zwar eine Kriegerwitwe, habe aber nur ein Kind. Deshalb bekomme ich von der Stadt keine Kartoffeln zum Selbstkostenpreis. Das gilt erst ab drei Kinder. Und die Zuckerkarte verliert in drei Tagen auch ihre Gültigkeit.“6

Dresdner Volkszeitung vom Januar 1923
Dresdner Volkszeitung vom Januar 1923

Der Schankwirt hob resigniert seine Hände. „Auch ich muss mit diesem rasanten Geldverfall leben. Wenn meine Gäste ein Glas Bier ausgetrunken haben, ist der Preis höher als zu dem Zeitpunkt, als ich es einfüllte.“

Wetterleuchten

„Das ist die Schuld der Franzosen“, moserte Alfred Mantsch. „Da haben die Deutschnationalen recht, als sie diese Woche zu Hunderten durch die Stadt marschierten und diesen ominösen Hitler, oder wie der heißt, hochleben ließen. Versailles und die Franzmänner. Das sind unsere wahren Erbfeindschaften.“7

Max lief rot an und hob drohend seinen Besen. Paul von der ‚Schmiede‘ schaffte es gerade noch, eine Prügelei zu verhindern. Mit einem energischen „Schluss jetzt“ ging er dazwischen. „Weder in meiner Kneipe noch davor und schon gar nicht am hellen Morgen wird sich hier geprügelt.“ Betreten trollten sich beide in entgegengesetzte Richtungen und Paul ging kopfschüttelnd in sein Lokal. Wo wird das noch hinführen, dachte er sich.

Anmerkungen des Autors

1 Dresdner Nachrichten vom 12. Januar 1923
2 Dresdner Volkszeitung vom 15. Januar 1923
3 Deutsche Demokratische Partei, eine linksliberale Partei der Weimarer Republik, die 1918 aus der Fortschrittlichen Volkspartei hervorging. Sie war bis 1932 an fast allen Reichsregierungen beteiligt. Erster Parteivorsitzender war Friedrich Naumann, dessen Namen die heutige FDP-nahe Stiftung trägt.
4 Beispiel Fa. Dujardin & Co.
5 Reglementierung des Brandweinausschanks und der Einschränkung der Polizeistunde; Aus Dresdner Nachrichten vom 20. Januar 1923
6 Dresdner Nachrichten 16. Und 17. Januar 1923
7 Dresdner Volkszeitung vom 19. Und 20. Januar 1923


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.