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Dresdens erster Fernbahnhof, Teil 5

Ein Kreuz mit der Bahn Ein Déjà-vu im weiten Sinne hatte der Zeitungsschreiberling Emil Locke Anfang Mai 1882, als er mit größter Atemnot, in der linken Hand einen schweren Holzkoffer und in der rechten den ruppigen vierjährigen Sohn, zügigen Schrittes dem Leipziger Bahnhof in der Dresdner Neustadt entgegeneilte. Die holde Gattin hastete mit größer werdendem Abstand hinterher. Den Eingang schon in Sichtweite, hörte er das Abfahrtssignal des Zuges.

Alter Leipziger Bahnhof Anfang des 20 Jahrhunderts
Alter Leipziger Bahnhof Anfang des 20 Jahrhunderts

Noch am gestrigen Tag hatte er sich mit Goethes Erlkönig befasst. In der letzten Strophe heißt es:

    „Dem Vater grauset´s, er reitet geschwind,
    Er hält in den Armen das ächzende Kind,
    Erreicht den Hof mit Mühe und Not;
    In seinen Armen das Kind war tot.“

Ärgerlich ließ er Koffer und Kind auf das Pflaster sausen und wünschte die Sächsische Staatsbahn, die Stadt Dresden, das Omnibusunternehmen und die Pferdebahnbetreiber zum Teufel. Nicht mal mit Mühe und Not erreichte er den Bahnhof und das Kind war, dem Herrgott sei Dank, auch nicht tot. Locke war nicht der Einzige, der sich über die unmöglichen Verkehrsanbindungen in der Residenz ärgerte.

Wie kommt man zum Bahnhof

In der Nr. 492 von 1882 des Calculator machte sich ein anderer Dresdner seinen Ärger in einem Leserbrief darüber Luft. „… dass die Verbindung aus Altstadt nach dem Leipziger und Schlesischen Bahnhof für eine Residenzstadt eine ganz traurige ist. Es bietet sich nur wenig Gelegenheit, mit billiger Fahrgelegenheit von oder zu den Bahnhöfen nach Neustadt zu gelangen. Wie oft sind keine Droschken bei der Ankunft zu haben und von Omnibussen ist erst recht keine Spur.“ Und wer dann noch mit schwerem Gepäck unterwegs sei, dem könne man nur bedauern, meinte der erboste Leser, „… denn der Weg über die alte1, wie die neue Brücke2 und über den Kaiser-Wilhelm-Platz3 dehnt sich entsetzlich aus.“

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Zudem fehlten Linien der Pferdebahn, deren Netz und die Bahnfolge nicht sehr dicht waren. Ein Ärgernis für Geschäftsreisende und Touristen gleichermaßen. Das änderte sich erst ab 1893 mit den elektrisch betriebenen Straßenbahnen.

Es qualmt, quietscht und stinkt

Andere Probleme rund um die Bahnen, die inzwischen durchgehend zwischen den Bahnhöfen der Alt- und Neustadt verkehren können, belästigten in erschwertem Maße im Jahre 1913 die Anwohnerschaft an den Gleisen. So auch an der Ecke Gutschmidstraße und Johann-Meyer-Straße.

Die Witwe Franziska Henne aus dem 3. Stock trank gerade gemütlich ihren Morgenmuggefugg, als ein ohrenbetäubendes Quietschen ihr fast die Tasse aus der Hand fallen ließ. Und durch das Fenster drang ein grauer Qualm, der sofort den ganzen Raum einhüllte und furchtbar stank. Die Henne verließ fluchtartig ihre Wohnung und prallte im Treppenhaus mit dem Postboten Curt Böttcher zusammen, der nach dem ersten Dienstgang in seine Wohnung im 4. Stock wollte.

„Nicht so stürmisch, Witwe Henne. Ist der Fuchs hinter Ihnen her?“, meinte er schmunzelnd. Sonst mochte sie seine Witzchen, aber heute fauchte sie ihn an. „Was soll der Scheiß? Dieses Gequietsche und Gequalme von diesen neuen Loks ist unerträglich. Den Gestank werde ich nie mehr los.“ Böttcher beruhigte sie. „Dafür sind die Mieten hier etwas günstiger. Vielleicht sollten wir uns mal bei der Staatsbahn beschweren?“

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Das taten nicht nur die Einwohner entlang der Gutschmidstraße, sondern viele, die in der Nähe oder direkt an den Gleisen wohnten. Und hier im Bogen zwischen Schlesischem Bahnhof und dem Haltepunkt Pieschen, unweit des Bischofsplatzes, war es besonders laut. Die Dresdner Nachrichten gingen diesen Beschwerden nach und informierten ihre Leser am 27. Juli und am 4. August 1913.

Dresdner Nachrichten vom 27. Juli 1913
Dresdner Nachrichten vom 27. Juli 1913

Seit einigen Wochen, so stand es dort, verwendeten die Sächsischen Staatsbahnen für die schweren Vorortzüge einen neuen Lokomotiven Typus. Dieser zeichnete sich dadurch aus, dass er bei den Abfahrten aus den Bahnhöfen und bei der Zunahme der Geschwindigkeit so penetrant quietschte, als würden die beweglichen Metallteile trocken aneinander reiben. Einige bekamen Phantomzahnschmerzen, und besonders lustige Anwohner machten aus dieser Not eine Tugend, indem sie ihren Nachtschlaf nach dem Fahrplan der Züge richteten und das musikalische Getöne als Wecker nutzten.

Steter Tropfen höhlt den Stein. Nachdem die Presse sich dieses Problems bemächtigte, lenkte die Eisenbahnbetriebsdirektion ein. „Nach Mitteilung der zuständigen Verwaltungsstelle werden jetzt diese nagelneuen Lokomotiven, insgesamt 40 Stück, zur Beseitigung des Übelstandes der Reihe nach der Werkstatt zugeführt.“ Die wahrscheinlich erste dokumentierte Massen-Rückholaktion eines Verkehrsträgers.

Das war für die Witwe Henne eine gute Nachricht, obwohl sie das Quietschen noch einige Zeit ertragen musste. Das Ende des stinkenden Qualms und der verräucherten Gardinen erlebte sie leider nicht mehr.

Anmerkungen des Autors

1 Augustusbrücke
2 Marienbrücke
3 Palaisplatz


Dresdens erster Fernbahnhof

Fünfter Teil einer kleinen Reihe zu dem Bahnhof, der heute als Alter Leipziger Bahnhof bekannt ist. Wer sich für detaillierte technische Informationen zur Leipzig-Dresdner Eisenbahn interessiert, findet in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek, in der Städtischen Bibliotheken sowie im Internet sehr reichhaltige Literatur. Diese Reihe befasst sich mit den Geschichten am Rande, die mit Realem und Fiktivem verwoben sind.

Unter der Rubrik “Vor 100 Jahren” veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek.

Ein Kommentar

  1. Vielen Dank für diese interessanten Beiträge. Die Probleme waren damals zum Teil ähnlich gelagert wie heute ;-)

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