Oder konkreter. Darf ein Gast in einem Lokal an den aufgetragenen Speisen Kritik üben? „Im Prinzip ja“, hätte es bei einem damals, also 1912, noch nicht vorhandenen kaukasischen Radiosender1 geheißen.
„Und ja“ dachte sich auch der Versicherungsdirektor Otto Schölkopf aus Chemnitz, der an einem Spätherbsttag des Jahres 1912 mit seiner Tochter Klara die Residenz Dresden besuchte. Nach einem Bummel vom Bahnhof quer durch die Altstadt und ständigen Halts an den Schaufensterauslagen ging es über die Augustusbrücke zum Neustädter Markt. Dort knurrte beiden der Magen und quälte der Durst. Das Klärchen wählte die Schankwirtschaft „Zum Klosterkeller“ als den Hort des Labsals für Füße und Magen.
Zu früh gefreut
Die Einrichtung warm und gemütlich, der Kellner freundlich und flott, beide fühlten sich auf Anhieb wohl. Im Nu standen das Bier für den Herrn Direktor und die Limonade fürs Klärchen auf dem Tisch. Bestellt wurde Kalbskopf. „Gute Wahl“, meinte der Kellner. Auf den fragenden Blick vom Herrn Direktor erwiderte er, dass „Kalbskopf nichts für arme Leute sei, sagt man so“. Und in Pierers Lexikon, dass er sich erspart habe, sei in der Ausgabe von 1865 zu lesen, dass der Kalbskopf eine Delikatesse sei, der mit einer guten Gemüsebrühe zubereitet werde. Das könne der Koch hier sehr gut. Außerdem sei das Fleisch sehr wohlschmeckend und leicht verdaulich. Schölkopf lief in der Vorfreude auf das Kommende das Wasser im Munde zusammen.
Doch irgendjemand gönnte den beiden die wohlige Stimmung nicht. Als der Kellner das Essen brachte, verwandelte sich die freundliche Mimik des Herrn Schölkopf beim Anblick dessen zuerst in eine enttäuschte Mundwinkel-nach unten-ziehende Grimasse und endete in einer aus den Augen wütende Blitze schleudernde, rot anlaufende Wutmaske. Er rief den Kellner herbei und zeigte auf seine bestellte Portion Kalbskopf. „Sehen Sie mal hier und hier. Das ist eine riesen Schweinerei. Lauter Haare am Fleisch. Nehmen Sie alles wieder mit und bringen Sie mir ein Essen, was auch sauber ist.“
Erschrocken nahm der Kellner beide Teller und verschwand in der Küche. Dort begutachteten Wirt Max Härtel und sein Koch das Fleisch. Ob es nun vielleicht zu finster in der Küche war oder beide ihre Brillen nicht aufhatten, jedenfalls fanden sie nichts zu beanstanden. Obwohl es ja vorkommen könne, dass gerade am Kalbskopf nicht alle Härchen entfernt worden seien. Und so musste der arme, schon ängstlich zitternde Kellner das Essen wieder zurück zum Herrn Direktor bringen und ihm sagen, dass alles in Ordnung sei.
Die Sache eskaliert
Doch nun trafen zwei zum Herrschen berufene Stiere aufeinander und boten den anwesenden Gästen ein herrliches Schauspiel an diesem tristen Herbsttag. „Diese große Schweinerei hier auf dem Teller ist ungenießbar“, warf Schölkopf dem herbeigeilten Wirt an den Kopf. „Das ist Kalb und kein Schwein, Sie Depp, Sie Kalbskopf“, antwortete Härtel. Beide schaukelten sich immer weiter auf der Wut-Skala nach oben, bis der Versicherungsdirektor mit Klärchen das Etablissement unter Androhung einer Klage verlies.
Der Kadi möge es regeln
Und im Februar 1913 trafen sich dann beide Parteien vor dem Landgericht. Aber der Herr Versicherungsdirektor war nicht der Ankläger, sondern plötzlich der Beklagte. Denn Wirt Max Härtel vom Klosterkeller war schneller und hatte den Chemnitzer wegen des Ausdrucks „große Schweinerei“ gerichtlich belangt. Otto Schölkopf wurde demnach auch wegen Beleidigung verurteilt.
In den Dresdner Nachrichten hieß es dazu: „Nach Ansicht des Landgerichts ist der Gast zweifellos zum Tadel an den ihn aufgetragenen Speisen berechtigt, aber die Kritik müsse in einer ruhigen und angemessenen Weise erfolgen. Dann stünde ihm auch der Schutz des § 193 des Bürgerlichen Gesetzbuches zu.“ Darin ging es um die Wahrung der Interessen. „Der Angeklagte habe aber die erlaubten Grenzen überschritten, insofern er zu Angehör aller Gäste die Zubereitung der Speisen als ‚große Schweinerei‘ bezeichnete.
Aber der Versicherungsdirektor war nicht blöd und strengte eine Widerklage an, da der Wirt ebenfalls ausfällig geworden sei soll und ihn einen „Deppen und Kalbskopf“ genannt habe. Doch die Zeugen konnten oder wollten das nicht bestätigen. Damit war die Gegenklage vom Tisch.
Sturheit kostet Geld
Doch Schölkopf gab nicht auf und ganz Stier ging er in Revision vor das Oberlandesgericht. Auch hier hatte er Ende März keinen Erfolg. In den Dresdner Nachrichten hieß es dazu in der Ausgabe vom 3. April 1913: „§ 193 Bürgerliches Gesetzbuch (Wahrung berechtigter Interessen) komme nicht in Frage, weil der Angeklagte (also der Versicherungsdirektor aus Chemnitz), wie sich aus Formen und Umstände ergebe, die Äußerung in beleidigender Absicht getan habe. Der Einwand mit dem § 199 BGB (Kompensation bei gegenseitiger Beleidigung) erledige sich dadurch, dass die Gegenbeleidigung überhaupt nicht festgestellt worden war.“
Der Wirt vom Klosterkeller verließ mit stolz geschwellter Brust das Gerichtsgebäude am Sachsenplatz als Gewinner in der Sache und auch in der Ansicht, es diesem Provinzler gezeigt zu haben. Der hatte ganz schön an den Gerichtskosten zu knabbern. Es traf aber keinen Armen.
Und, fragte sich ein geneigter Leser, darf man denn nun in der Kneipe meckern? Im Prinzip ja, aber …
Anmerkung der Redaktion
- 1 Der Autor spielt hierbei auf den Sender Eriwan an, mitnichten der Radiosender von Armenien, vielmehr eine fiktive Erfindung humoriger DDR-Bürger, mehr Details in der Wikipedia.
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek durchstöbert.
Danke, liebe Redaktion. Das mit Radio Erewan stimmt natürlich so, wie du es bemerkt hast.
Recht haben und Recht bekommen … Eine lustige (oder ärgerliche?) Geschichte.
Kleine Besserwisserei: Am Sachsenplatz gab und gibt es kein Gerichtsgebäude. Das steht an der Lothringer Straße. Der Sachsenplatz sind nur die rund 80 Meter zwischen Terrassenufer und Roßbach-/Florian-Geyer-Straße. Die heutige Grünfläche zwischen Landgericht und Sachsenallee war damals mit Wohnhäusern bebaut, ebenso wie die östliche Seite der Sachsenallee zur Elsasser Straße hin.