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Der Martin-Luther-Platz

Ein Sonntagnachmittag im Dezember. Es ist ungewöhnlich warm und sonnig für die Jahreszeit, ein paar letzte Blätter halten sich wacker an den Bäumen, doch der Wind weht kräftig und treibt das übrige Laub raschelnd über den Platz. Dieser misst etwa 130 Meter in der Länge und 40 Meter in der Breite.

Die Kirche dominiert den Platz - Foto: Jonas Breitner
Die Kirche dominiert den Platz – Foto: Jonas Breitner

Von West nach Ost gehend kommt man zunächst auf einen Vorplatz mit Bänken, auf dem sich nun einige Jugendliche und junge Familien eingefunden haben. In der Mitte des Vorplatzes ist eine steinerne (Welt)-Kugel in den Boden eingelassen.

Treffpunkt für Jedermann

Im Sommer ein Springbrunnen, auf dessen Strahl die Kugel schwebt, klettern heute Kinder – fest eingepackt in Ganzkörper-Jumper – auf ihr herum als würden sie es nicht erwarten können, den Erdball zu erobern.

Darauf folgt ein unbebauter Bereich vor der Martin Luther Kirche, die Kirche selbst und dahinter eine Grünfläche mit Gefallenendenkmal und weiteren Sitzgelegenheiten. Gediegene, alte Häuser im Gründerzeitstil mit hohen Fenstern, Ziegeln und herausgeputzten Fassaden umarmen den Platz.

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Dies gibt ihm einen geborgenen, aufgeräumten, einladenden Charakter (wenn auch die Mülleimer überquellen, was zu einem kurzen Wortgefecht zwischen einer älteren Dame und den besagten Jugendlichen führte).

Auch abgesehen vom sommerlichen Martin-Luther-Platz-Fest, ist dieser Platz ein beliebter Treffpunkt für jedermann, im Corona-Jahr 2020 wohl noch mehr als sonst.

Der Platz ist eine Einbahnstraße - Foto: Jonas Breitner
Der Platz ist eine Einbahnstraße – Foto: Jonas Breitner

Massig, hoch (81 Meter!) und stolz ragt die in einer Mischung aus Neoromanik und Neogotik errichtete Kirche über den Platz. Sie bildet den Dreh- und Angelpunkt der Show.

Über 130 Jahre alt und damit aus sakraler Perspektive noch blutjung, könnte sie bestimmt dennoch einiges erzählen. Etwa das Glück im Unglück, dass sie im zweiten Weltkrieg kaum Schaden nahm, die metallhungrige Kriegsmaschinerie jedoch ihre große Glocke raubte und nicht wiederhergab.

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75 Jahre Friedenskirche

Frisch saniert, wirkt die Kirche dennoch recht düster, gotisch, abweisend, die Pforte zu, das Licht gedämpft, kein Mucks von innen zu vernehmen.

Zwischen Holda und Tauschschrank

Einsamer Christbaum in Regentonne, der Herr im Fenster ist nur aufgemalt - Foto:  Jonas Breitner
Einsamer Christbaum in Regentonne, der Herr im Fenster ist nur aufgemalt – Foto: Jonas Breitner

Klein kommt man sich neben ihr vor, verloren. Ähnlich verloren wie der vor der Bar Holda stehende Christbaum in Regentonne, ungeschmückt und arg allein harrt er vor der verlassenen Bar aus.
Die Kirche umrundend springt ein roter Kleidertausch-Schrank ins Blickfeld, sträflich überfüllt und unsortiert, durchstöbern dennoch einige Menschen den Inhalt.

Daneben, etwas verloren und von weit weniger Interesse gesegnet, wartet ein alleinstehender Ofen auf ein neues Zuhause.

Tauschschrank mit Beistell-Herd - Foto: Jonas Breitner
Tauschschrank mit Beistell-Herd – Foto: Jonas Breitner

Im Weitergehen fällt die gelbe Decke auf, die das Laub über das Gras hinter der Kirche gebettet hat. Den Blick die Häuserfront entlangschweifend sieht man politische Statements von der BRN-Fahne, über „Räumt Moria“ bis hin zu einem, neben der von Graffitis bedecken Sparkassenfiliale angebrachten Plakat mit dem Aufruf „Nazis Jagen!“.

Passend, dass sich eine deutsche Sprachschule am Martin-Luther-Platz niedergelassen hat, in Anbetracht der Leistung, welche dieser mit seiner Lutherbibel für die deutsche Sprache vollbrachte. Er ersann so schöne Worte wie „Sündenbock“, „Lückenbüßer“, „Lockvogel“ oder „Dachrinne“. Schwieriger jedoch, dass die Kirche, die den Namen eines anti-jüdischen Theologen trägt, in direkter Nähe zum Alten Jüdischen Friedhof steht.

Ausgefuchst-liebevolles Detail - Foto: Jonas Breitner
Ausgefuchst-liebevolles Detail – Foto: Jonas Breitner

Abseits dieses Spannungsfeldes haben sich hier Arzt- und Massagepraxen, Osteopathie, die hipp aussehenden Cafés „Kuchenglocke“ und „Lloyds“, eine Stiftung, Kulturmanagement und dergleichen versammelt. Alles miteinander verbunden durch die schmale, von vielen Autos zugeparkte namensgebende Einbahnstraße.

Dieser Platz wirkt hübsch, und trotz der alten Häuser angesagt-modern, mittlerweile wohl recht teuer und noch immer Graffiti-besprüht und politisch aktiv, Neustadt eben.

Mit dem Abend kommt die Romantik

Die Kirchturmuhr, hergestellt in Leipzig, zeigt nun kurz nach Vier an. Die aufziehende Dämmerung bestätigt dies. Die Nacht erhebt sich über den Platz und es wird kälter. Doch in dem Maße, wie sich die Umgebung verdunkelt, erhellt sich die zuvor abweisende Kirche. Warmes, einladendes Licht drängt aus der nun offenen Pforte, und oben auf dem Kirchturm unter dem hellen Weihnachtsstern, versammelt sich ein Chor.

Am Abend strahlt sie wohlige Wärme aus, die Martin-Luther-Kirche - Foto: Jonas Breitner
Am Abend strahlt sie wohlige Wärme aus, die Martin-Luther-Kirche – Foto: Jonas Breitner

Weihnachtliche Kirchenlieder hallen über den Platz, trotzig, sich gegen eine laute vorbeirauschende Polizeisirene behauptend, bespielen sie den Raum mit Musik. Die paar Menschen, die unten, hungrig nach Kultur, ausharren, applaudieren. Da fällt mir auf: heute ist der zweite Advent! Obendrein findet an diesem Nachmittag die Veranstaltung „Offene Kirche mit Musik“ statt (selbstverständlich mit Hygienekonzept).

Vom Orgelspiel drinnen angelockt begeben sich einige Menschen, Jung und Alt, in die Kirche und lauschen, weihnachtlich-andächtig der Musik. Ein Gefühl von Geborgenheit in Tradition und (wenn auch sozial-distanzierter) Gemeinschaft kommt auf. Die Welt dort draußen wird dunkel, doch drinnen ist es hell und voller Klang. Schöne Sache so kurz vor Weihnachten.

Romantische Beleuchtung durch Telefonzelle - Foto: Jonas Breitner
Romantische Beleuchtung durch Telefonzelle – Foto: Jonas Breitner

Der Martin-Luther-Platz

Straßen und Plätze im Stadtbezirk Neustadt

5 Kommentare

  1. M. Luther Kirche
    Wenn die Leute nicht immer in die
    Nischen urinieren würden, wäre es
    noch schöner!

  2. Ein netter Artikel, und schön geschrieben. Plus einer kleinen Anregung, wo ich mal genauer hinschauen werde. Danke.

    Aber -natürlich- möchte ich noch zwei kleine Erweiterungsvorschläge unterbreiten.
    „Die Kirche umrundend springt ein roter Kleidertausch-Schrank ins Blickfeld, sträflich überfüllt und unsortiert“ + „In harten Diskussionen sagten dies einige Menschen voraus. Doch schnell entpuppte sich, dies waren rechtsextreme Hetzer und kapitalistische Ketzer.“
    „…neben der von Graffitis bedecken Sparkassenfiliale angebrachten Plakat mit dem Aufruf „Nazis Jagen!“.“ + „“Zurück in die Zukunft“ scheint Wirklichkeit geworden. Das Vehikel macht Unmögliches möglich.“

    Schönen Adventsabend noch. :-)

  3. Ein sehr schön geschriebener Artikel, der einem nochmal den Blick für „die Kleinigkeiten“ an einem bekannten Ort zeigt, die man beim regelmäßigen vorbeigehen zu häufig übersieht.

  4. Sehr schöner Artikel. Leider muss erwähnt werden, das dieser schöne Platz zu einer Müllhalde verkommt. Dieser Tauschschrank hat völlig seine Wirkung verloren. Wenn die Stadtreinigung diesen Müll entsorgt hat, dauert es keinen halben Tag und es ist wieder verdreckt. Ich selbst habe schon mehrfach das Ordnungsamt und die Sradtreinigng angeschrieben. Es geht mittlerweile in die tausende Euros , diesen Müll zu entsorgen. Ich hoffe nun, das dieser Schrank wieder abgebaut wird, und die Leute zur Mülldeponie auf den Hammerweg fahren.

  5. Leider hat der Drang, alles mit einer Farbe persönlicher Wahl zu besudeln, nun auch nicht vor der eindrucksvollen Granitkugel des Brunnens im kleinen Park vor der Kirche Halt gemacht. Man kann nur hoffen, dass sie sich im Sommer trotzdem wieder dreht.

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