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Statistenkrawall im Sarrasani

Raschen Schrittes bewegte sich ein Trupp seltsam gekleideter Männer aus dem Hintereingang des Zirkus Sarrasani über den Beaumontplatz1 hinter dem Jägerhof und hinein in die Spelunke von „Beils Restauration“. Grinsend stand der Wirt Richard Drechsler an der Theke und ließ sofort Bier in die Gläser laufen. Die Kleidung der Männertruppe wies sie als Statisten des Zirkus Sarrasani aus.

Beils Restauration - zeitgenössische Postkarte
Beils Restauration – zeitgenössische Postkarte

An diesem späten Nachmittag des 5. Januar 1914 gab es dort das Manegen-Spektakel „Napoleon Bonaparte“ und die Statisten hatten bereits Soldatenuniformen der „Grande Armée“ an und nutzten die Zeit bis zur Vorstellung, um ihre trockenen Kehlen etwas anzufeuchten. Sie waren allesamt junge Männer aus der Antonstadt und arbeitslos. Durch Vermittlung des Öffentlichen Arbeitsnachweisamtes2 verdienten sie sich im Zirkus ein paar Mark hinzu. Da Statisten nicht in einem festen Arbeitsverhältnis integriert waren, war diese Tätigkeit ein willkommener Hinzuverdienst, zumindest für die meisten.

In der Spelunke

Nachdem der Wirt für die zehn Männer die Gläser serviert hatte und die Truppe als „die Schauspieler aus dem berühmten Sarrasani“ umschmeichelte, hob der Anführer der Meute, der dreißigjährige Paul Schäfer sein Glas zum Toast.

„Auf uns, Jungs und weil ohne uns der Laden nicht läuft.“ Dem stimmten mit Bravo-Rufen alle anderen zu.

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Blitzumzug

In einem Zug waren die Gläser leer, die der Wirt rasch auffüllte. Richard Drechsler freute sich auf die Statisten. Sie kehrten regelmäßig in seine billige Spelunke3 ein. Die besser bezahlten Artisten, die Musiker, die Dompteure und die aus der Führungsetage verkehrten in besseren Etablissements an der Haupt- oder weiter oben an der König-Albert-Straße. Derweil gab es in „Beils Restauration“ bereits die Runde vier und der Wirt erinnerte den sogenannten Chefstatisten an die Vorstellung, die in knapp einer Viertelstunde beginnen würde. Das tat auch der Inspizient Wilhelm Wuttke, der gerade durch die Tür hereinstürmte.

Erst die Gage, dann das Spiel

„Meine Herren, es ist genug gesoffen. Alles auf die Plätze, oder das war die letzte Vorstellung für euch.“

Der impulsive Gustav Meier brüllte was von Klappe halten und das eigentlich vor der Vorstellung die Auszahlung der Gage fällig sei4. So war es bisher immer. Und solange die nicht ausgezahlt würde, bleibe man hier. Stille in der Kneipe. Der Inspizient lief puterrot an und war einem Ausbruch an Wut nahe. Der Wirt beeilte sich, die Gäste abzukassieren und diese folgten mit bösem Blick dem Zirkusangestellten zum Hintereingang des Sarrasani.

Dresdner Nachrichten vom 11. Januar 1914
Dresdner Nachrichten vom 11. Januar 1914

Hinter der Bühne angekommen, forderte Paul Schäfer als selbsternannter und von allen akzeptierter Sprecher der Statisten, dass man sofort die Gage auszahle, sonst gäbe es keine Vorstellung. Der Inspizient versuchte die Bande zu beschwichtigen und meinte, dass es heute erst nach der Vorstellung die Gage gäbe, weil Direktor Förster und der Kassenwart noch wichtige Gespräche zu führen hätten. Bisher gab es mit den Auszahlungen nie Probleme und die drei Stunden Verzögerung könne man doch verkraften. Man solle nicht so empfindlich sein.

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Der Krawall begann

Das hätte Wilhelm Wuttke lieber nicht sagen sollen, denn sofort erhob sich ein lautstarker Tumult, der sicher bis in den großen Zuschauersaal zu hören war. Der impulsive Gustav Meier nahm einen Stuhl, der zufällig in seiner Nähe stand und schleuderte diesen in Richtung des Inspizienten. Erschrocken wich dieser zurück. Die Schauspielerinnen und Schauspieler des Stückes verzogen sich eilig in die Seitenschiffe hinter der Bühne. Ein Schrank wurde mit den Keulen der Jongleure zertrümmert und die Glasscheiben der Flügeltüren zum Treppenhaus gingen zu Bruch.5

Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Januar 1914
Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Januar 1914

Die Statisten brüllten nun im Chor „Gage, Gage, Gage“. Unruhe verbreitete sich unter den Zuschauern. Einige verließen erschrocken ihre Plätze und gingen eilig zur Garderobe. Man wisse ja nicht, ob die Kommunisten nicht wieder eine Revolution anzetteln würden. Ein Platzanweiser-Junge rannte in die Büros und berichtete dem Direktor vom Aufruhr hinter der Bühne.

Der Direktor stellt sich

Nach Luft japsend und keuchend betrat der korpulente Direktor Förster den Platz des dramatischen Aufruhrs hinter der Bühne und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann schweifte sein Blick durch den Raum, suchend nach einem Stuhl, doch dieser lag zertrümmert in einer Ecke. Und seine Ohren vernahmen dieses lautstarke, fürchterliche Gekreische von „Gage, Gage, Gage“. Ihm reichte es.

Sarrasani-Gebäude - zeitgenössische Postkarte
Sarrasani-Gebäude – zeitgenössische Postkarte

„Kann mir mal einer der Herren erklären, was eigentlich das Problem ist?“, brüllte Förster und erreichte, dass das Geschrei aufhörte. Paul Schäfer trat vor und sagte dem Direktor mit fester Stimme, dass es Usus6 sei, dass die Statisten vor der Aufführung ihre Gagen zu erhalten haben. Dieses ungeschriebene Gesetz habe der Direktor nicht eingehalten. „Wenn wir nicht sofort unsere Gage bekommen, dann streiken wir hier so lange, bis Sie zahlen, Herr Direktor. Und die Zuschauer animieren wir, dass sie ihr Geld für die Eintrittskarten zurückfordern werden.“ Gustav Meier intonierte wieder „Gage, Gage, Gage“, der sich alle anderen Statisten anschlossen.

Das Ende der Meuterei

Direktor Förster wischte sich abermals den Schweiß von der Stirn und aus dem Hals. Wegen eines dringenden Gesprächs hatte er doch glatt vergessen, die Auszahlung der Gagen an die Statisten anzuweisen. Zudem ärgerte er sich, dass sein Kassenwart ihn nicht daran erinnert habe. Und so musste er sich notgedrungen bei der meuternden Truppe entschuldigen. Dann kehrte Ruhe ein. Der inzwischen mit der Handkasse herbeigeeilte Kassenwart Steglich ließ aus dem nahen Salon einen Tisch nebst Stuhl bringen und begann mit der Auszahlung.

Die Vorstellung begann etwa zwanzig Minuten später.

Direktor Förster verließ schwitzend und schnaufend den Ort des Geschehens in Richtung seines Büros. Am anderen Tag wollte er sich zu einem Klinikaufenthalt nach Berlin begeben, um sein nervöses Leiden und sein Dauerschwitzen behandeln zu lassen. Zudem ärgerte er sich über diese Raufbolde. Es war immer ein Markenzeichen vom alten Stosch-Sarrasani und auch von seinem Sohn gewesen, den Kundgebungen der linken Kräfte in der Stadt eine Heimstatt und arbeitslosen jungen Leuten eine Verdienstmöglichkeit zu geben. Aber Undank ist der Welten Lohn.

Anmerkungen des Autors

1 später Wiesentorplatz, heute nicht mehr vorhanden, siehe Stadtwiki Dresden
2 eine frühere Bezeichnung für das Arbeitsamt
3 Bezeichnung für eine verrufene, etwas heruntergekommene Kneipe
4 Dresdner Neueste Nachrichten vom 11. Januar 1924
5 Dresdner Nachrichten vom 11. Januar 1924
6 etwas, was allgemein üblich ist aus dem Lateinischen


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.