Wann können wir in Deutschland von Normalität zwischen Juden und Nichtjuden sprechen? Wenn eine Atmosphäre herrscht, die frei ist von Vorurteilen, Diskriminierung und Antisemitismus? Wenn es selbstverständlich ist von Juden und nicht von Menschen jüdischen Glaubens oder von jüdischen Mitbürgern zu sprechen? Wenn nicht als erstes in Verbindung mit Juden an Holocaust, an Antisemitismus oder an jüdische Religion gedacht wird?
Das Ziel ist klar. Aber wie kommen wir dorthin? Hilft mehr Bildung über Geschichte, Kultur, Holocaust, Ursachen des Antisemitismus usw.? Wenn, wie in den meisten Fällen, die Angesprochenen noch nie einem Juden begegnet sind?
Das Problem liegt meines Erachtens darin, dass Wissen nur über einzelne Aspekte vermittelt wird. Im Mittelpunkt steht nicht die Normalität von Juden: Sie haben Freuden und Probleme wie alle anderen auch. Vielleicht begeistern sie sich für eine Musikrichtung, sie gehen zur Schule oder arbeiten, vielleicht steht ihre Familie im Mittelpunkt aller Überlegungen, sie haben (oder auch nicht) finanzielle oder gesundheitliche Sorgen. Alles andere ist für die meisten Juden zweitrangig.
Jüdisch zu sein ist nur ein Aspekt ihrer Persönlichkeit. Das ist nicht anders als bei den meisten Christen. Mit dem Unterschied, dass einseitiges Wissen über Christen durch Begegnungen mit Christen im Alltag ergänzt oder korrigiert wird.
3-Tage-Juden
Ein Beispiel: Ich besuche, seit vielen Jahren Schulklassen oder Schüler kommen zu mir nach Hause. Die haben bei einer Synagogenführung (Synagoge am Hasenberg) etwas über das Judentum gelernt. Fast immer werde ich zuerst nach der jüdischen Religion, nach koscherem Essen usw. gefragt. Dass die meisten Juden in Dresden – wenn überhaupt – sogenannte 3-Tage-Juden sind, sich weder für koscheres Essen noch für Religion interessieren, ist den Schülern nicht bekannt. Als Beweis führe ich dann an, dass von den ca. 700 Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu den Schabbat-Gottesdienst kaum mehr als zehn bis 20 Personen kommen. Religion ist eben nur ein Aspekt des Jüdischseins und interessiert hier nur wenige. Diese Form der Wissensvermittlung macht Juden zu Exoten.
Ein großer Erfolg auf dem Weg zur Normalität ist erreicht, wenn aus Juden Nachbarn werden. So erlebe ich es in der Jüdischen Kultusgemeinde Dresden.
Die Nachbarn: Die Räume der Jüdischen Kultusgemeinde befinden sich in Dresden in der Eisenbahnstraße, unmittelbar bei einem Wagenplatz mit Zelten, Wohnwagen, umgebauten Lastwagen, Hütten. Die Bewohner sind unter anderem Schausteller, Musiker, Studenten.
Weitere Nachbarn sind die Künstler des Künstlerhauses Hanse 3 (Hansastraße 3). Es liegt ca. 50 Meter entfernt von der Kultusgemeinde.
Das Besondere: Die Bewohner des Wagenplatzes und die Künstler von Hanse 3 pflegen einen unkomplizierten Austausch mit der Jüdischen Kultusgemeinde; so, wie es sich für gute Nachbarschaft gehört: Mal kommen Nachbarn zur Schabbatfeier, als Zuschauer oder mit einem Musikinstrument, bringen selbstgemachte Bowle mit, mal kommt auch ein liebeswürdiger Hund vom Wohnpark. Oder die Schabbatfeier findet in Hanse 3 statt, weil die Synagoge der Kultusgemeinde noch nicht genutzt werden kann. (Die Synagoge soll am 3. September eingeweiht werden.) Und noch etwas: Die Kultusgemeinde fühlt sich durch die Nachbarschaft geschützt vor Störern.
Lebendige Erinnerungen in der Hanse 3
Vorläufiger Höhepunkt dieser Beziehungen waren die Veranstaltungen in der Hanse 3 unter dem Titel “Lebendige Erinnerungen” vom 21. bis 23. Juli 2023, die gemeinsam von den Nachbarn Hanse 3 und der Jüdischen Kultusgemeinde organisiert wurden. Weitere Mitwirkende waren Freunde und Bekannte. Das Programm begann mit einem gemeinsamen Schabbat, und wurde mit einem Rundgang auf dem Gelände das Alten Leipziger (Deportations-) Bahnhofs fortgesetzt. Es gab Bastelaktionen, einen Vortrag zur Geschichte der Juden Dresdens, kulturelle Veranstaltungen und Musik mit ausgelassenen Tänzerinnen und Tänzern. Die Veranstaltung war für offen für alle.
Unterstützung kam von Freiwilligen und von der Stadt Dresden (Sozialamt), der Christian Ludwig Stiftung, der Globus Stiftung, dem Stadtbezirk Dresden-Neustadt und weiteren Spendern.
Ob dies ein Erfolg versprechender Weg zur Normalität zwischen Juden und Nichtjuden ist, wird sich zeigen. Ein Versuch war es auf jeden Fall wert.
Ein Gastbeitrag von Dr. Herbert Lappe. Der 1946 in London geborene Sohn jüdischer Emigranten übersiedelte mit der Familie in die DDR nach Dresden. Der IT-Berater war langjähriger Mitarbeiter im Vorstand der jüdischen Gemeinde und der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Dresden und wesentlich verantwortlich für den Bau der Neuen Synagoge in Dresden (2001).
Normalität ist, wenn es keine Rolle spielt. Welche Religion, welche Herkunft, welche Hautfarbe…
so ist es. sollen alle auf ihre art glücklich werden und mich dabei möglichst in ruhe lassen.