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Ferienspaß in schlechten Zeiten

Diakon Hermann Keller war nicht der Einzige, der am Seiteneingang der Eschebach-Villa an der Ecke der Georgenstraße zum Albertplatz in der Dresdner Neustadt anstand. Vor ihm wollten mindestens weitere 15 Frauen und Männer das Verkaufsbüro der Sächsisch-böhmischen Dampfschifffahrtgesellschaft aufsuchen. Hermann Keller wollte mit der Jugendgruppe der evangelischen Martin-Luther-Kirche einen Ausflug in die Sächsische Schweiz durchführen.

Elbufer in den 1920er Jahren.
Elbufer in den 1920er Jahren.

In diesen Zeiten der sich im vollen Galopp befindlichen Inflation des Sommers 1923, der politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Ruhrbesetzung durch die französische Armee, der unsäglichen Reparationsleistungen durch den Versailler Vertrag, bekamen besonders die unteren und mittleren Schichten der Bevölkerung immer weniger für ihr sauer verdientes Geld. Gerade im Sprengel der Martin-Luther-Kirche in der Antonstadt1 gab es sehr viele Familien, die sich einen Urlaub in der Sächsischen Schweiz oder an der Ostsee oder gar in Böhmen oder in Österreich nicht leisten konnten.2

Zudem sparte der Staat an Sozialleistungen. So fällt die öffentliche Brotversorgung der Bedürftigen ab dem 15. September weg. Als Ersatz wurde ein Gesetz zur Sicherung der Brotversorgung für 1923/24 geschaffen, nachdem die besitzenden Klassen eine Abgabe von ihrem Vermögen zu leisten hätten. Natürlich unter Anrechnung vieler Ausnahmen. Ob es funktioniert, wurde bezweifelt, da die erste Tranche schon zum 1. August 1923 fällig sei. Aber für die Ferienbetreuung hatte dieses Gesetz keine Auswirkung.3

Die meisten der Kinder und Jugendlichen verbrachten deshalb die Sommerferien auf dem Hof, in den Straßen der Neustadt oder am Ufer der Elbe, meistens an der Einmündung der Priesnitz. Selbst für die offiziellen Badestellen fehlte oft das Eintrittsgeld. Und so waren viele Eltern froh, ihre Kinder in der Obhut der Kirche zu wissen.

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Endlich war Hermann Keller an der Reihe. Für die diesjährige Ausflugstour konnte durch Beschluss des Gemeindevorstands ein Teil der sonntäglichen Kollekte verwendet werden. Auch einige größere Unternehmen steuerten etliches bei. Und besonders half auch, dass die Direktion der Sächsisch-böhmischen Dampfschifffahrtgesellschaft einen Rabatt von 20 Prozent für Schüler- und Jugendvereinigungen gewährte.1 Und so konnte der Diakon für 25 Jungen und Mädchen Plätze für den Ausflug nach Rathen und zurück erwerben.

Am 17. Juli 1923, einem Dienstag, traf sich die Gruppe morgens 8 Uhr an den Einstiegen am altstädtischem Terrassenufer. Wie eine Schar schnatternder Gänse erstürmte man den Dampfer und suchten sich auf dem Bug ein Plätzchen. Hier hatte Hermann Keller seine Pappenheimer im Blick. Die allermeisten hatten ihre Neustadt noch nie von der Elbe aus gesehen.

Bautzner Straße, zeitgenössische Postkarte
Bautzner Straße, zeitgenössische Postkarte

„Gucke mal, jetzt fahren wir unter die Carola-Brücke durch. Was sind das für Streifen an den Pfeilern?“, fragte die zwölfjährige Gerda. „Da hat wohl jemand geputzt und die Arme waren zu kurz, weil es nicht bis zum oberen Bogen gereicht hat. Dort oben ist alles schwarz“, warf der kleine Witzbold Walter ein. Hermann Keller lachte. „Geputzt ist schon richtig, Gerda. Aber das hat keine städtische Putzkolonne getan, sondern die Elbe ganz allein. Das ist eine ihrer Markierungen vom letzten Hochwasser.“
„Und was ist das für ein Haus mit der Krone obendrauf?“, kam es vom achtjährigen Friedrich. „Ich dachte, dass es keinen König mehr gibt. Mein Vater sagte, dass der Friedrich August in der Revolution abgesetzt wurde.“ Auch dafür wusste der Diakon eine Antwort. „Da drin sitzt unsere Landesregierung. Der ehemalige König Friedrich August III. hat übrigens bis vor knapp fünf Jahren im Schloss gesessen und sitz da eigentlich immer noch. Nur hat er keine Macht mehr und keine Verantwortung. Bei vielen Bürgern in der Stadt genießt er aber immer noch hohes Ansehen. Und manchmal sieht man ihn hier und da in der Altstadt sein Bierchen trinken und mit den Leuten ein Schwätzchen halten. Er ist jetzt sowas wie unser gemütlicher Landesopa.“

Gleich hinter der Fähre zur Johannstadt kam das Antons4 in Sicht. Davor tummelten sich im neuen Flussbad viele Kinder, die sich den Eintritt leisten konnten.

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Und so fuhr die Gruppe weiter elbaufwärts an den Elbschlössern vorbei. Bestaunt wurde Pillnitz von der Wasserseite. Man sah die Industriebetriebe von Heidenau, fuhr an Pirna vorbei und bestaunte die Felsen des Elbsandsteingebirges mit der Bastei in luftiger Höhe. In Rathen verließ die Gruppe das Schiff und wanderte zur Bastei hoch. Dort spendierte Hermann Keller jedem eine Fassbrause und eine Bockwurst. Als der Diakon ihnen erzählte, dass hier im Mittelalter Raubritter ihr Unwesen trieben, wollten man es genau wissen. Natürlich merkten die Jugendlichen schnell, dass Hermann Keller ihnen fantastische Schauermärchen über das Leben der Ritter auftischte. Dann ging es zurück durch die mystische Welt der Schwedenlöcher, die einigen einen eisigen Schauer einjagte, hinunter in Richtung Amselsee und wieder zur Anlegestelle des Elbdampfers.

Dort wurden die restlichen Margarinebrote, deren Aufstrich sich durch die sommerliche Hitze in die Bemme verkrochen hatte, verspeist. Am späten Nachmittag war man zurück am Terrassenufer. Müde, glücklich und mit vielen neuen Eindrücken ging es heim in ihre Antonstadt zwischen Bautzener Straße und Bischofsweg.

Anmerkungen des Autors

1 Der Anbau auf dem Sande, außerhalb von Altendresden, der späteren Neustadt gelegen, erhielt 1835 den Namen Antonstadt (benannt nach dem damaligen König Anton) und wurde in die Stadt Dresden eingemeindet. Wohl seit DDR-Zeiten nennt man dieses Areal der Antonstadt „Äußere Neustadt“.
2 Dresdner Nachrichten vom 20. Juli 1923
3 Dresdner Neueste Nachrichten vom 17. Juli 1923
4 Das Antons wurde 1755 vom erzgebirgischen Oberfloßinspektor Christian Gottlob Anton als Alterssitz errichtet. 1898 kaufte die Stadt das Anwesen und weihte am 1. August 1922 ein Elbebad ein. Im Gebäude befanden sich ein Restaurant, ein Terrassencafé sowie Sportplätze und Liegewiesen und ein herrlicher Park. In der oberen Etage residierte der Oberbademeister aller städtischen Dresdner Badeanstalten. In den Bombennächten 1945 wurde das Haus zerstört. Etwa 100 Meter flussaufwärts vom Fährgarten Johannstadt sind am Ufer noch Hinweise auf die untere Terrasse und die Badebucht zu ahnen.


Unter der Rubrik “Vor 100 Jahren” veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

2 Kommentare

  1. Wie immer schön zu lesen und sehr unterhaltsam.

    Aber Herr Keller hat bestimmt nicht über “das Leber der Ritter” gesprochen. :)

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