Es gibt viele Zentralorgane, als natürliche sind sicher Herz und Hirn beim Menschen beachtlich ausgebildet. Aber es gibt nur ein ZentralOHRgan – und das in der Dresdner Neustadt, welches zudem heute seinen 35. Geburtstag feiern könnte, aber dies (wie üblich) erst am Sonnabend tut, so dass es am Nikolausabend rings um die Louise 22 etwas Rudelbildung geben und etwas lauter zugehen dürfte.
Dazu vorgeladen: die beste (weil einzige) DDR-Punkband aus Prag – „Verkauf Musique“. DDR aber nur deshalb, weil deutsche Texte, durchaus in erstaunliche Kürze. Und anderem „Trabi Katastrophe“, woraufhin Rügen warten muss, weil eine Ratte das Zündkabel zerbiss.
Das Quartett wurde in Prag gegründet. Damals schon dabei: Frontmann Jan Ondřej und Schlagzeuger Jiří Šimeček – als dann 2008 Gitarrist Jiří Charypar dazukam, war es an der Zeit fürs Debütalbum „Sein Leben“. Zum zwanzigsten Bandjubiläum gönnte man sich eine echt fette „Speisekarte“ als üppiges Album, dem nun die frische EP „Trabi Katastrophe“ und der nächste Dresdner Gig folgt.
Konstante im Wandel
Inhaber vom ZentralOHRgan – seit nunmehr schon zwanzig Jahren am selben Standort – ist Norman Sharp, Dresdner des Jahrgangs 1967. Er erfüllte sich just am 4. Dezember 1990, also genau vor 35 Jahren, seinen Traum vom eigenen Vinylladen und eroberte – damals gemeinsam mit drei Partnern – einen Laden im Hinterhof in der Lutherstraße.
Norman Sharp erzählt das gern in seiner ruhigen, lakonischen Art, die alles andere als eine umtriebige Händlerseele vermuten lässt und dabei gern in der dritten Person spricht, aus den Anfangsjahren: „Wir waren die zweiten in der Neustadt. Kurz vorher hatte am Bischofsweg schon einer aufgemacht, der hatte anfangs nur Platten, dann auch Spielautomaten, später nur noch Spielautomaten.“
Die drei Phasen des Vinyldinos
Das war zum 25. vor zehn Jahren – schon da war er der absolute Dino unter den Vinylhändlern und hat die drei typischen Neustadt-Phasen symptomatisch durch: Gründungsphase in der heißen wie heiklen Wendezeit. Diese dauerte fünf Jahre, anno 1995 begann Phase zwei, jene der Etablierung. Diese dauerte zehn Jahre und das Geschäft lief gut, obwohl die Zeit zwei Eigentümlichkeiten gebar: Einerseits konkurrierte die Platte mit den kleineren und vermeintlich besseren Silberlingen.
So gab es nach Auslaufen des auf zehn Jahre fix geschlossenen Mietvertrages die Frage: Weitermachen und Umziehen oder Aufhören. Seine Partner bevorzugten letzteres, ab da war er Einzelkämpfer. Der 15. Geburtstag wurde so 2005 schon auf der Louisenstraße 22, dem heutigen Standort gefeiert – als verspätete Einzugsparty. Die dritte Phase, gemeinhin Konsolidierung genannt, hält seither an und der Laden, mit kleinem Büro fast einhundert Quadratmeter. Und wie vor zehn Jahren laufen alle bekannten Plattenpresswerke – keines jünger als der Laden – auf Hochtouren.
Erinnerung an 25. und Dreifachparty 2022
Das sich diese Geburtstage durchaus wie Klassentreffen von Urneustädtern (inzwischen gern weggezogen) anfühlen, weiß man anhand der Historie. So war es zum legendären 25. vor zehn Jahren. Damals gastierte im ZentralOHRgan Jinovatka aus Tschechien – Psycho Metal ganz ohne böhmische Blasmusikattitüden, noch heute in Tubenkanälen livehaftig zu finden.
Jinovatka 2015 im Zentralohrgan
Das gilt ebenso wie das außergewöhnlichste Konzert im Laden: 302 Aufrufe hat Human Trash aus Brasilien, vermittelt von „Milkman‘s Trash Poster Show“, am 21. November 2013.
Human Trash 2013 im Zentralohrgan
Zum 30. (sowie 31.) gibt es ganz andere Erinnerungen: Vor fünf Jahren wollte man zusammen mit der „100“ als ältestem Bar- und Weinkeller der Neustadtneuzeit gemeinsam den 60. feiern. Was störte: die Schließung aller (vermeintlich) nichtlebensnotwendigen Läden sowie all dem, was Spaß macht, was im März 2020 noch „Shutdown, im Dezember 2020 dann schon „Lockdown“ genannt wurde. Diese konnte dann erst 2022 (also 32.) als einfache Dreifachparty starten. Damals gastierte mit Sugar Ko:ma ein ebenso wildes Lokaltrio.
Älter als die DDR als Ziel
Vor fünf Jahren antwortete Norman Sharp auf die Frage nach der nächsten Geburtstagsfeier als Musikkenner: „When I’m Sixty-Four vom Sgt.-Pepper-Album der Beatles wäre ein gutes Motto.“ Doch nun feiert er aufgrund der Erfahrungen der Jahre 2020 bis 2022 doch öfter – einfach so, weil es an der Zeit sei und man nicht wisse, was denn komme und hindern könne.
Sharp, dem als Werbung für den Laden das „Grimassenbuch“ reicht, dem er 2014 notgedrungen beitrat, weil sich drei andere als ZentralOHRgan dort ungehörig tummelten, und der, so es der Andrang der Kundschaft erlaubt, jener gern ein gediegenes Fachschwätzchen gönnt, gab vor drei Jahren das Ziel aus: „Älter werden als die DDR!“. Mit einem ZentralOHRgan als Fühler an der Masse des Musikgeschmacks rückt das Ziel näher – und ist wäre schon im Dezember 2031 erreicht – denn die vierte deutsche Republik verfehlte bekanntlich ihren 41. Geburtstag dank unserer raschen Verkohlung samt Anschluss um knappe vier Tage.
Das dürfte auch die Prager Combo interessieren, denn diese tritt bei ihren Auftritten gern mit unseren Devotionalien auf – und hisst durchaus die Flagge. Eine nette Story hat Sharp auf Lager: Denn ab und an kommt ein Rudel Tschechen in den Laden, so auch kürzlich. Als er diese nun natürlich gern zur Party einladen mochte, aber die Verständigung sprachlich nicht unkompliziert geriet. half ein Prospekt: „Ah, meine Band“, grinste der Gitarrist, der das Terrain (nicht ohne neue Scheiben im Heimreisegepäck) offenbar schon öfter und inkognito erkundete.
Zuvor lernte er nur den Schlagzeuger kennen, der auch den Gig verabredete, und offenbar keiner des Quartetts richtig deutsch spricht. Es wird also garantiert lustig bis ostalgisch am Sonnabendabend. Und der Song „Meinst Du?“ (ein knappster Sechszeiler) endet programmatisch mit „Wir schaffen das“!
Verkauf Musique im Punkfreund
Zum Schluss sei daher nur auf ein sehr frisches Bandporträt von Lieselotte Meyer im Punkzentralorgan verwiesen, wo Einzigartig- und Ernsthaftigkeit solide herausgearbeitet sind: www.freunde-des-punk.de/verkauf-musique
ZentralOHRgan
- Geburtstagsparty „35 Jahre ZentralOHRgan“ am Sonnabend, 6. Dezember, ab mittags im Laden, ab zirka 18 Uhr Konzert mit „Verkauf Musique“
- Louisenstraße 22, 01099 Dresden
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