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Dresden versinkt im Schnee

Hochneujahr1 fiel in diesem mit Hoffnungen vollgepackten Jahr 1924 auf einen Sonntag. Das ärgerte die Arbeiter, Angestellten, Beamten und vor allem die Kinder. Kein Feiertag. Keine zusätzliche Möglichkeit des Ausschlafens. Und so trieb es die Familie des Telegrafensekretärs Preißer aus dem Bischofsweg 34 mit ihren drei Kindern auf die Hänge des gegenüber liegenden Alaunplatzes. Mit zwei Rodelschlitten, einer davon kam erst kürzlich als Weihnachtsgeschenk in die Familie, ging es über den Exerzierplatz der Reichswehr hinauf bis zum Ehrenmal vor der Schützenkaserne.

Alaunplatz um Kaserne um 1920 - zeitgenössische Postkarte
Alaunplatz um Kaserne um 1920 – zeitgenössische Postkarte

Rodeln ist groß in Mode

Der 14-jährige Robert und der 12-jährige Ewald fuhren einen Schlitten, und Vater Preißer nahm die kleine Sabine mit. Mama blieb zu Hause. Der Hang war trotz zunehmender Dunkelheit mit vielen Rodlern dicht bevölkert. Hier und da erleuchteten Karbidlampen den Rodelplatz. Zusammenstöße ließen sich nicht vermeiden. Die einen lachten und johlten, andere schimpften wütend und mancher der Kleinen heulte und schrie nach Vater oder großem Bruder. Letztere verteidigten natürlich ihre jüngeren Geschwister, was hier und da zu kräftigen Schlägereien führte. Aber letztendlich hatten fast alle ihren Spaß.

Hier am Alaunplatz war alles vertreten, was in der Gegend wohnte. Das schmucke Gründerzeithaus des Bischofsweges 34 war wohl das bestgesicherte Gebäude der ganzen Antonstadt, denn im Haus selbst wohnten ein Polizeiwachtmeister, zwei Polizeioberwachtmeister und ein Oberkriminalkommissar nebst ihren nicht gerade kinderarmen Familien.

Restaurant am Bischofsweg
Restaurant am Bischofsweg – zeitgenössische Postkarte

Im Parterre2 hatte der Hausbesitzer Arthur Oehme sein „Restaurant zum Königsparadeplatz“. Nun, der König war zwar schon seit mehr als fünf Jahren kein Oberhaupt des Staates mehr, aber ein kleiner Teil der Reichswehr bewohnte noch auf der Basis des Versailler Vertrages die Kasernen der Albertstadt.

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Auf dem Platz tummelten sich schmucke Reichswehrsoldaten neben den Mähnenjünglingen mit Schillerkragen3. Jauchzende Mädchen in kecken Burschengewändern rodelten den Hang hinunter. Und sie nutzten selbstbewusst die Anmachversuche der Jungs und ließen sich von denen den Hang wieder hinaufziehen. Wer das Geld für Schlitten nicht hatte, baute sich einen aus den Spanplatten der Margarinekisten.4

Dresdner Nachrichten vom 6. Januar 2024
Dresdner Nachrichten vom 6. Januar 2024

Der Winter hat Mitteleuropa im Griff

Der massive Schneefall seit den letzten Dezembertagen des Jahres 1923 hüllte die Stadt in einen weißen Wintermantel, wie es ihn lange nicht mehr gab. Die Straßen ließen rasende Autos und sprintende Radfahrer nicht mehr zu. Die Vereisungen darauf nutzten Schlittschuhläufer für ihre Aktionen. Sehr zum Nachteil der Betreiber von Eisbahnen. Ihnen fehlte die Kundschaft, weil sich diese nun kostenlos auf den Straßen tummelten. Die Familien, die größere Hanglagen für ihre Skier bevorzugten, wanderten zum Heller. Und auch die einbrechende Dunkelheit ließ das Schneefieber der Dresdner nicht einschlummern. Mit Lampen behaftet, traf man selbst gegen Mitternacht noch Rodelnde.

Der Spaß am Winter war leider nicht überall zu sehen. Riesige Eisschollen behinderten die Schifffahrt auf der Ostsee und auf der Oder. Hier und da gingen die Kohlen für die Heizung in den Wohnungen aus. Manche Orte in Osteuropa waren von der Außenwelt abgeschnitten. Viele Straßen wurden wegen fehlendem Winterdienst und Eisglätte gesperrt.4

Ordnung muss sein

Dafür sorgte mit strengem Blick Polizeiwachtmeister Horn aus der 4. Etage des Bischofsweges 34. Sobald er Jugendliche auf der Straße vor dem Haus auf ihren Schlittschuhen vorbei flitzen sah, trat seine Trillerpfeife in Aktion, um die jungen Leute zu vertreiben. Es half nichts. Kaum rannte er in die eine Richtung, tummelten sich die Jugendlichen auf einem anderen Straßenabschnitt. Da er nicht mehr der Jüngste war, blieb er schon nach wenigen Metern japsend stehen. Das trieb die größeren Jungs natürlich dahingehend an, dass sie den armen Wachtmeister so lange ärgerten, bis dieser entnervt und schnell atmend aufgab und im „Restaurant zum Königsparadeplatz“, im Erdgeschoss seines Wohnhauses, eintrat, um mit einem Bier und einem Kurzen seinen Ärger hinunterzuspülen. Er hasste den Winter, die rotzfrechen Bengels aus dem Viertel und deren Väter wegen der laschen Erziehungsmethoden.

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Und er sehnte sich nach den Führung und Ordnung wie zu Zeiten von Kaiser Wilhelm II. und König Friedrich August III. Zufrieden war er jedenfalls darüber, dass es den Bolschewiken und Sozis nicht gelungen war, im Oktober 1923 eine Sowjetrepublik in Sachsen auszurufen.

Bischofsweg um 1912 - zeitgenössische Postkarte
Bischofsweg um 1912 – zeitgenössische Postkarte

Vor drei Tagen wurde unter dem Sozialdemokraten Dr. Max Heldt eine Große Koalition mit der Deutschen Volkspartei gebildet. Zuvor hatten die gemäßigten Sozialdemokraten die Zusammenarbeit mit den Kommunisten endgültig aufgegeben. Das spendete dem Polizeiwachtmeister ein klein wenig Trost. Was das Tamtam mit den frechen Jugendlichen anging, so hoffte er inständig auf baldiges Tauwetter. Und darauf bestellte er sich noch ein Bier und einen Kurzen.

Anmerkungen des Autors

1 in Süddeutschland und im sächsisch-thüringischen Raum ist das der 6. Januar; die Herkunft dieses Brauches ist uneindeutig; weitere Infos in der Wikipedia
2 Erdgeschoss
3 ein über der Jacke zu sehender offener, breiter Hemdenkragen; kam erstmals zu Lebzeiten von Friedrich Schiller in Mode; in den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war Schillerkragen auch ein Symbol unbürgerlicher und naturverbundener Lebenshaltung bei jungen Menschen
4 Dresdner Nachrichten vom 6. Januar 1924


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.

7 Kommentare

  1. Lieber Heinz, herzerfreuender Text! Vielen Dank. So ein Blick in die Vergangenheit ist interessant und bereichernd.
    Hab ein gutes Jahr!

  2. Danke für den Blick ins Vergangene. Ein toller Artikel, welcher mit großer Freude, schön zu lesen ist.
    Mit lieben Grüßen und den besten Wünschen für Sie, eine verzückte Leserin.

  3. Schöner Text, vielen Dank!
    Man fühlt sich zurückversetzt in eine Zeit, in der man noch gar nicht gelebt hat.

  4. Der 6. Januar ist der Heilige Abend bei manchen ortodoxen Christen immer noch (Rußland und Serbien, auf jeden Fall) und am 7.1. ist Weihnachten. Daher das Wort „Hochneujjahr“?
    Sehr guter, erfreulicher Artikel!

Kommentare sind geschlossen.