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Jugendfreud und Jugendleid

Agnes Lindt eilte zur Haltestelle an der Dorotheenstraße in Strehlen. Sie hörte schon die „9“1 heranrumpeln. Es war an diesem Abend kühl und regnerisch, von Frühling nichts zu spüren. Die Konferenz der Redaktion der Dresdner Nachrichten im Königshof an diesem 13. März 1923 hatte länger gedauert als geplant.

Von wegen die Frauen seien schwatzhaft. Die Mehrheit der Männer konnte bei zunehmendem Bierkonsum ihre Guschen einfach nicht stillhalten. Da kamen die wenigen Frauen im Journalistenkollegium lautstärkemäßig nicht durch. Ihre Aufgaben waren die klassischen Frauenthemen für die Beilage am Sonntag, wie Mode, Gesundheit, Ratgeber und Küche sowie hin und wieder einen lustigen Text zum Alltag über die Woche. Und letzteren müsse Agnes morgen beim Schriftleiter2 einreichen. Bisher hatte sie nicht eine Zeile geschrieben. Noch nicht einmal ein Thema drängte sich ihr auf.

Das Publikum in der Bahn hatte sich verändert.

Das fiel Agnes schon seit längerem auf. Von ihrer Wohnung in der Antonstadt3 fuhr sie täglich zur Redaktion auf die Marienstraße in der Altstadt. Mittlerweile kostete die einfache Fahrkarte dank der galoppierenden Inflation 250 Mark.4 Die arme Klavierlehrerin, die von einer zur anderen Stunde hetzt, der ehrwürdige Professor, der in seinen alten Tagen noch umlernen musste und froh war, in einer Bank einen kleinen Posten erhalten zu haben und dann der kleine Rentner, der sein Leben lang gedarbt und gespart hatte, um im Alter vor Armut geschützt zu sein, muss für ein Geschäft Botengänge übernehmen, weil die paar Quietscher Rente nicht mehr reichten – diese Leute sieht man nicht mehr in der Bahn.4

Straßenbahn in den 1930er Jahren
Straßenbahn in den 1930er Jahren

Jugend machte sich breit

Am Georgplatz stürmte eine Horde vergnügter Jungen und Mädels in den Wagen. Laut trällerten sie den aktuellen Shimmy-Hit5 „Heut fahren wir nach Liliput, da schmeckt der Tee mit Willi gut …“

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Agnes schmunzelte. Diese jungen Leute aus der noch wohlhabenden oberen Mittelschicht sind keineswegs sittsam und in der Öffentlichkeit zurückhaltend, wie ihre Generation. Obwohl, das gestand sie sich ein, war sie in dem Alter um die Zwanzig auch nicht verschüchtert und sogar den Suffragetten6 zugetan. Mit der Revolution 1918 hatten die Frauen ihr Wahlrecht schließlich erreicht7. Aber vieles an Gleichberechtigung war noch unerledigt.

Diese jungen Leute in der Bahn, ihr Frohsinn und ihre Leichtigkeit warfen ein Streiflicht auf die neue Art von Liebesleben der jungen Dresdnerinnen und Dresdner und das trotz der Tatsache, dass morgen früh die Nacht vorüber war und die Arbeit nach pünktlichem Dasein rief. Hier in der Bahn saßen sie Händchen haltend eng beisammen, die Mädels mit roten Wangen und glänzenden Augen und die Burschen in der bewussten Würde eines „Kavaliers“.

Grünliche Hosen

Grinsen musste Agnes über die hochmodischen hellgrauen, grünlichen oder gelben Hosen der Jungs, wie wohl diese Farben in diesem Frühjahr angesagt seien. Aber die dürren Kerls sahen darin aus wie junge Hühnchen, die das Ei zu früh verlassen hatten.4 Die Eifersucht ist die Leidenschaft, die mit Eifer sucht, was Leiden schafft.8

Kurz vor dem Postplatz flüsterte ein Mädchen ihrem Liebsten leise zu: „Aber du steigst heute nicht hier aus, ja Bubi? Du fährst mit bis zum Neustädter Markt und bringst mich heim.“ Und Bubi versprach es.

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Da störte der Schaffner das Liebessäuseln der beiden und verlangte den Obolus für den Fahrschein. Bubi kramte 500 Mark aus seiner gut gefüllten Brieftasche. Dabei fiel ein beschrifteter Zettel heraus. Rasch bückte sich der Jüngling, doch die Maid war ebenso schnell. „Was ist das für ein Brief?“, fragte sie argwöhnisch.

„Ist gar kein Brief, mein Engel“, antwortete er sanft.

Das machte die Gutste noch misstrauischer. Rasch steckte Bubi den Zettel wieder ein. Aber der Argwohn fraß sich in die Maid. Lauter werdend bestand sie darauf, den Inhalt zu lesen. Da er den Zettel so hütete, könne es nur ein Liebesbrief von einer anderen sein. „Von wem?“, rief das Mädel energisch mit vor Jähzorn sprühenden Augen und hatte die Aufmerksamkeit des ganzen Waggons.

Bubi reichte es. „Es ist kein Liebesbrief“, beteuerte er. „Also beruhige dich. Ich bin schließlich ein Mann und lasse mich nicht so vor allen Leuten blamieren.“

Und dann nahm das Schaustück an Dramatik zu. Engelchen wurde wütend und Bubi handgreiflich. Ein Schlag auf den wohlfrisierten Blondschopf der Maid ließ den eleganten Plüschhut in Trümmern gehen. Daraufhin biss Engelchen ihrem Galan9 in die Hand. Zerstört war das junge Glück. Alles lachte.

Trotzig packte die Maid ihre Trümmerhaube und ging wutentbrannt raus auf den Peron10. Bubi blieb sitzen und verließ dann, ohne Gruß am Engelchen vorbei, am Postplatz die Bahn. Dieses kam lachend zurück, schüttelte ihre Kurzhaarfrisur, offerierte den neugierigen Mitfahrenden „Der kommt schon morgen wieder“ und stieg am Neustädter Markt aus.

Dresdner Nachrichten vom 13. März 1923
Dresdner Nachrichten vom 13. März 1923

Agnes Lindt wechselte am Albertplatz von der „9“ in die „7“ und fuhr prächtig unterhalten und gut gelaunt ihrem Zuhause am Bischofsweg entgegen. Mit dabei die Grundidee für ihren nächsten Artikel.

Anmerkungen des Autors

1 siehe Wikipedia, Straßenbahn Dresden
2 So nannte man damals den Chefredakteur
3 zeitgenössische Bezeichnung für die Neustadt
4 Dresdner Nachrichten vom 13. März 1923
5 ein aus dem Foxtrott entstandener Gesellschaftstanz; kam 1920 aus Amerika nach Europa; ein alle Körperteile schüttelnder Tanzstil; Beispiel: „Ausgerechnet Bananen“ 1924
6 Emanzipationsbewegung des Bürgertums des beginnenden 20. Jh. aus England (suffrage = Wahlrecht); man kämpfte für das Wahlrecht der Frauen mit teils radikalen Mitteln; gab es auch in Sachsen
7 in der Verfassung der Weimarer Republik 1919 verankert
8 Gedicht von Franz Grillparzer (1791 – 1872)
9 Synonym für Liebhaber, Verehrer, Bewunderer (aus den Spanischen)
10 offene Plattform vorn und hinten auf den Straßenbahnwaggons


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.