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Die Jugend macht uns Sorgen

Oberschulrat Bechtle erhob sein Weinglas und prostete den Anwesenden aus dem Vorstand des Vereins zur vaterländischen Förderung der Jugend zu und wünschte allen ein gutes Jahr 1842. „Und Gottes Segen“, warf Pastor Rausche von der Dreikönigskirche in die Runde, was nickend zur Kenntnis genommen wurde. In einem Nebengelass des Hotels Stadt Leipzig1 an der Heinrichstraße trafen sich die Vorstände des Vereins, um sich den Aufgaben des neuen Jahres zu widmen.

Im Erdgeschoss des Hotels "Stadt Leipzig" war einst ein Restaurant. Postkarte von 1929
Im Erdgeschoss des Hotels „Stadt Leipzig“ war einst ein Restaurant. Postkarte von 1929

Bildungsfragen von 1841

Als erster ergriff Lehrer Lemke das Wort und dozierte über die Ansichten eines gewissen Dr. Trinks zum Zustand der vaterländischen Bildung und Erziehung der Jugend. Der gleichmäßige Ton des Lemke ließ bei Amtsrichter Schulte und Stadtrat Tümpe die inneren Ohren schließen, die Hirne dem Morpheus zu überlassen und die Augenlider schließen. Pastor Rausche bemerkte dies und ließ seine donnernde Kanzelstimme ertönen, um den Singsang des Lemke zu beenden und die sich auf dem Weg zu Morpheus Befindenden energisch zurückzuholen.

„Also, um das mal zusammenzufassen: Der Zustand unserer Jugend ist ein ganz miserabler. Das höre ich laufend aus der Lehrerschaft. Und das wird auch durch meinen Religionsunterricht bestätigt. Unser jugendliches Geschlecht zeichnet sich gegenwärtig durch eine angeborene physische Schwäche und eine immer weiter um sich greifende Arbeitsscheu aus. Das äußert sich besonders in der Abneigung zum Erlernen eines Handwerkberufes“, zitierte er aus den Sächsischen Vaterlandsblättern.2

Sächsische Vaterlandsblätter, Nr. 74 vom 22. April 1841
Sächsische Vaterlandsblätter, Nr. 74 vom 22. April 1841

Und Stadtrat Tümpe ergänzte empört, „dass eine Genuss- und Zerstreuungssucht unbekannten Ausmaßes die Jugend ergriffen hat, die es vor zwei Dezennien7 noch nicht gab.“

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„Und wo sind die Fortschritte in der geistigen und sittlichen Bildung? Wo?“, warf Amtsrichter Schulte in die Runde.

„Genau das sind die Probleme in der heutigen Erziehung. Und genau das habe ich auch der Schulbehörde vorgetragen“, bemerkte Oberschulrat Bechtle und beendete diesen Punkt der Analyse des Gegebenen. Gerade zur rechten Zeit, denn der Kellner brachte den Schweinsbraten mit Klößen und Sauerkraut herein, dessen Duft die Gedanken von der Bildung zum leiblichen Wohl umlenkten.

Nach dem Laben des Bratens, welches in Wohlgefallen endete, bemerkte Pastor Rausche, dass sich die Stadt mehr um ihre missratenen Jugendlichen kümmern müsse, neben den leiblichen Eltern natürlich.

„Geht nicht“, wandte Stadtrat Tümpe ein, „die Kassen sind leer.“3

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Leere Kassen

„Waaas?“, rief Lehrer Lemke. „Wo ist das Geld denn hin? Wir zahlen doch schon genug Abgaben. So nimmt sich der Fiskus von jedem Bissen dieses hervorragenden Schweinebratens und von jedem Schluck dieses köstlichen Rebensaftes einen nicht gerade kleinen Anteil.“

„Stimmt leider, lieber Lemke. Als 1830 der damalige Rat abdankte, hatten wir in der ‚Communkasse‘6 ein bares Guthaben von rund 300.000 Talern4. Und jetzt? In der Sitzung am 20. Januar 1841 offenbarte sich die Stadtkasse mit einem Schuldenberg von 28.316 Talern5.“ Betroffen reagierte jeder in der Runde.

„Da gibt es nur zwei Lösungen. Entweder Steuern erhöhen oder kräftig sparen.“

Amtsrichter Schulte stöhnte auf und meinte, dass steigende Abgaben Gift für die gewerbetreibenden Bürger wären. Und die Erhöhung des Mietzinses würde alle treffen. Der Armenfonds der Stadt müsste ebenfalls bluten, zumal der Landtag die Zuschüsse dafür auch noch gestrichen habe.

„Ich teile Eure Empörung. Hier das Neueste. Die Mehrheit des Stadtrates hat trotz der leeren Kasse in ihrer Ausgabenfreudigkeit die Einrichtung einer neuen Stadtratsstelle mit 1.000 Talern Gehalt genehmigt. Und wenn ich mir die halsbrecherische Bepflasterung der Straßen anschaue, dann graust es mir“, empörte sich Tümpe. „Dafür ist kein Geld da.“

Oberschulrat Bechtle steckte sich genüsslich ein Pfeifchen an.

Pastor Rausche grinste. „Mein lieber Bechtle, dieses Paffen würde Ihnen auf den Dresdner Straßen recht teuer kommen. In Leipzig wurde das Verbot aufgehoben. In Dresden besteht es seit 1777 und wurde zweimal verschärft. Merkwürdigerweise erstreckt sich das Verbot hier auf der Neustädter Seite nur bis zum Leipziger und Bautzener Tor. In der Antonstadt und in Neudorf ist es erlaubt. Die Polizei maßte sich im Sommer sogar an, auf der Vogelwiese das Tabakrauchen zu verbieten, nur weil an diesem Tage der königliche Prinz keine zehn Schritte entfernt an einer Bude stand“.3

„O, deutsches Volk, verlern endlich den krummen Buckel“, gab Lehrer Lemke händeringend in die Runde. „Dem Prinzen wäre das Rauchen wohl egal gewesen, aber die Polizei ist leider zu allmächtig. Heben wir unser Glas auf die freie Rede hier im ‚Stadt Leipzig‘, wo uns niemand die Gusche verbietet. Zum Wohl, meine Herren. Auf die Redefreiheit im Hinterzimmer.“

Die Bildungsideale in der Mitte des 19. Jahrhunderts

Das ließ man sich nicht zweimal sagen und kam zum eigentlichen Thema der heutigen Vereinsvorstandssitzung zurück.

Amtsrichter Schulte bemerkte, wohlwollend zu Lemke blickend, dass man zur gedeihlichen Beförderung des Schulunterrichts die Bemühungen der Lehrer unterstützen müsse. Kopfnicken in der Runde. „Dabei müssen wir uns vor einem großen Fehler der Eltern hüten, nämlich dem der Überschätzung der geistigen Anlagen der eigenen Kinder. Dazu kommen noch deren überspannte Forderungen an die Schule.“2

Und Pastor Rausche gab betreffs der Verweichlichung der Jungen und Mädchen zu bedenken, dass diese nicht zu frühzeitig und ohne Maß und Ziel in die Genüsse des gesellschaftlichen Lebens einzuweihen seien. Es gehe um Mäßigung in den Lebensgenüssen, um Enthaltsamkeit und Entsagung vor allem im Geschlechtlichen und um Selbstbeherrschung. Schließlich wolle man dem Leben geistig und körperlich kräftige und nicht verzogene und verweichlichte Kinder übergeben.

Oberschulrat Bechtle fasste die Diskussion zusammen. „Es ist das weitere Anliegen unseres Vereins, dass wir nicht in das hier und da geforderte Verdummungssystem vergangener Jahrhunderte zurückkehren, sondern zur reiferen Ausbildung unserer Kinder eine zu verlängernde Schulzeit dafür nutzen, um dem Staate nicht nur ein körperlich kräftiges, sondern auch ein geistig gebildetes und, hinsichtlich seines Willens, erstarktes Geschlecht zu erziehen.“2

Dem stimmten alle zu und bestellten beim Kellner noch jeweils ein Viertel des köstlichen Weißen.

Anmerkungen des Autors

1 Ist eines der ältesten Gasthäuser in der Dresdner Neustadt. Es wurde 1457 erstmals erwähnt und wurde beim großen Brand 1685 zerstört und danach im barocken Stil aufgebaut. Zurzeit befindet es sich in der Restaurierungsphase.
2 Sächsische Vaterlandsblätter Nr. 74 vom 22. April 1841, Artikel „Über die Jugenderziehung“
3 Sächsische Vaterlandsblätter Nr. 142 vom 30. September 1841, Artikel „Klagen aller Art“
4 entspricht heute etwa 12,9 Millionen Euro; nach der Tabelle „Kaufäquivalente historische Beiträge in deutschen Währungen“ der Deutschen Bundesbank, Stand Januar 2022
5 entspricht heute etwa 1,15 Millionen Euro
6 die Stadtkasse
7 Jahrzehnt


Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.