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Der verdeckte Killer (Teil 6 & Schluss)

Die Spanische Grippe in Dresden 1918 bis 1920

Corona hat uns heute im Griff. Vor 100 Jahren gab es Ähnliches: die „Spanische Grippe“. Zwischen 25 und 50 Millionen Todesopfer forderte sie weltweit, mehr als der Erste Weltkrieg mit seinen 17 Millionen Toten.

In mehreren Folgen möchte ich die Wirkungen der Pandemie zwischen Krieg und Revolution, zwischen Hunger und Tanz auf dem Vulkan in den gesellschaftlichen Schichten darstellen. Sie werden staunen, welche Parallelen es zur Pandemie 2020 gibt.

Es mangelte an allem

Es hörte sich schon witzig an: In Berlin, der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreiches regierte eine Volksregierung. Der Kaiser war noch da, die alten Generäle auch, die Kriegsindustrie lief nach wie vor auf Touren. Die Spanische Grippe bestimmte das Leben in der Heimat. Diese Regierung nannte sich so, seit die Mehrheitssozialisten der SPD Anfang des Monats Oktober in die Regierung eintraten. Man wollte einen Frieden der Gerechtigkeit. Doch die Zeitungen berichteten am Ende des Monats Oktober immer noch von erfolgreichen Abwehrkämpfen im Westen.

Die Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt setzte sich zum wiederholten Male mit der unzureichenden Lebensmittelversorgung auseinander. Es mangelte überall. Die auf den Lebensmittelkarten aufgeführten kargen Rationierungen konnten nicht mehr bedient werden. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Am 23. Oktober beklagte man zwar den Mangel an Fisch und meinte schulterzuckend, dass das in absehbarer Zeit wegen des Schiffs- und Personalmangels und der fehlenden Auslandszufuhr nicht zu beheben sei.

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Und da es auch kein oder nur recht selten Fleisch gab, empfahl die Amtshauptmannschaft dafür Mehl. Man meinte es ernst. Für November 1918 wurden zudem fleischlose Wochen angekündigt, nicht als Vorschlag, sondern als Verordnung. Kartoffeln waren auch knapp und wurden zur Bückware. Und man forderte die Bevölkerung auf, Gemüse, wie Weißkohl, Zwiebeln, Möhren und Rote Rüben einzulagern. Rotkohl fiel nicht darunter. Dessen Ernte war nicht gut.

Eisen- und Straßenbahnen reduzierten die Taktzeiten, da viele Fahrer durch die Grippe ausfielen. Der Telefonverkehr für private Gespräche wurde rationiert. Gekürzt wurden auch die Kohlen-Lieferungen für den Zeitraum Dezember 1918 bis März 1919.

Ein weiterer Mangel kam hinzu: der Mangel an Zahlungsmittel. Erste Ursache war der Mangel an Arbeitskräften in den Banknotendruckereien durch Krieg und Grippe. Dadurch fehlte einfach das Papiergeld. Da wunderte es nicht, dass breite Bevölkerungskreise die Banken und Sparkassen stürmten und ihr Geld abhoben. So konnten dadurch teilweise nicht einmal die Wochenlöhne an die Arbeiter und Angestellten ausgezahlt werden. Angst regierte, nicht die „Volksregierung“.

Die Grippe erreichte ihren Höhepunkt

Die sozialdemokratische Dresdner Volkszeitung schrieb noch am 23. Oktober, dass „im Laufe des Vormittags Krankenwagen unausgesetzt mit der Beförderung von Grippe-Erkrankten nach den hiesigen Heil- und Pflegeanstalten unterwegs“ waren. Die Krankenhäuser, die Ärzte und das Pflegepersonal waren völlig überlastet. Täglich trafen um die 400 Betroffene ein, davon viele mit schweren Symptomen. Und die Dunkelziffer war nach wie vor sehr hoch.

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Die Menschen warteten und beteten. Warteten auf ein Ende der Grippe und des Krieges. Beteten für das Überleben der Angehörigen. Beide Ereignisse brachten Leid und Unglück über die Familien. Und da viele Vergnügungsetablissements geschlossen hatten, wurde doch auch viel Geld gespart. Das brachte die erzkonservative Sächsische Volkszeitung auf folgende Idee: „Wenn sich jedermann dazu entschließt, den erübrigten Betrag dem Roten Kreuz zu widmen, so wird die Landesversammlung ‚Kriegerfürsorge‘ am 1. und 2. November (1918) dadurch einen sehr willkommenen Zuwachs erhalten. Ein solcher ist umso wünschenswerter, als gerade jetzt gewaltige Anforderungen zu erfüllen seien. Große Mittel sind Voraussetzung, um bis zuletzt nach keiner Richtung versagen zu müssen.“

Die Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt verkündete indes eine Verschärfung der Maßnahmen gegen die Spanische Grippe. Ab sofort seien auch der Tanzunterricht und die Tanzstundenkränzchen verboten.

Es liegt was in der Luft

Merkwürdiges geschieht nach dem 2. November 1918. Die Dresdner Zeitungen wurden immer dünner, eine Folge des Papiermangels. Die Blätter aller politischen Lager kamen nicht umhin, das Grummeln im Heer und unter der Arbeiterschaft zunehmend in ihren Nachrichten zu berücksichtigen.

Und die zweite, weil wichtigere Merkwürdigkeit: Wie auf wundersamer Weise zog sich die geheimnisvolle Spanische Grippe sehr rasch zurück. Für den 5. November hob der Rat der Stadt Dresden das „erlassene Verbot aller öffentlichen Veranstaltungen mit Wirkung von heute im vollen Umfange wieder auf. Veranlassung zu dieser Maßnahme hat der Rückgang der Grippe in Dresden ergeben“, so in der Dresdner Volkszeitung zu lesen.

Zwei Tage später war aus der Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt zu hören, dass der Schulunterricht am Montag, den 11. November wiederbeginne.

Und herrschte nun wieder die Normalität? Nein. Jetzt erst begann ein fast sechsjähriger Leidensweg. Zunächst mit einer…

Revolution!

Schon seit 18 Uhr am Freitag, den 8. November 1918 waren verschiedene Trupps von Soldaten aus den Kasernen der Albertstadt durch die Neustadt gezogen. Am Abend gegen 20 Uhr bildete sich auf dem Altmarkt ein Menschenauflauf mit Soldaten und Arbeiter, der von zwei Rednern agitiert wurde, „welche mit sinnlosen, aufrührerischen Forderungen die Massen aufreizten“, so die nationalliberale Zeitung Dresdner Nachrichten. Dann zog dieser Trupp zur Neustädter Wache, um die Räumlichkeiten zu plündern.

Beherzte Teilnehmer, wie ein Herr Otto Knauß, konnten sie beruhigen und zum Weitermarschieren animieren. Über die Bautzner und die Forststraße ging es zu den Grenadierkasernen, die von den Wachen ohne Widerstand übergeben wurden. Den Offizieren wurden der Degen abgenommen und die Rangabzeichen sowie die Kokarde entfernt. Vor dem Festungsgefängnis auf der Königsbrücker Straße öffnete man gewaltsam das Tor und wollte alle Gefangenen befreien. Hier war es wieder Otto Knauß, der beruhigend auf die erhitzten Gemüter einwirkte und erreichte, dass etwa 400 Gefangene befreit wurden, die nur geringe disziplinarische Vergehen begangen hatten. Soldaten mit schweren Vergehen blieben in Haft.

Im Zirkus Sarrasani rief der Arbeiter- und Soldatenrat den Freistaat Sachsen aus und erklärte den sächsischen König Friedrich August III. für abgesetzt.

Neue Zeiten standen bevor, die aber auch den Keim für die kommenden Tragödien in sich trugen.

Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür hat der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universtätsbibliothek durchstöbert.